Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Zukunft«
Die Fahrt ins Wood Hollow Ernte-Camp dauert drei Stunden. Der Kleinbus ist luxuriös ausgestattet mit Ledersitzen und teuren Lautsprechern, aus denen Popmusik dudelt.
Der Fahrer hat einen grauweißen Bart, ein breites Lächeln und ein fröhliches Wesen. Der Weihnachtsmann als Chauffeur.
»Freust du dich schon auf deinen großen Tag?«, fragt er, als sie Miracolinas Haus und Familie hinter sich lassen. »Hattest du ein schönes Zehntopferfest?«
»Ja und nein«, sagt sie. »Ich freue mich, aber eine Feier gab es nicht.«
»Oh, das ist aber schade. Warum denn nicht?«
»Weil es beim Zehntopfergang nicht um mich geht.«
»Oh« ist alles, was ihm darauf einfällt. Miracolina hat mit ihrer Antwort jedes Gespräch im Keim erstickt und das war auch ihre Absicht. Das Letzte, was sie jetzt will, ist, diesem Mann ihre Lebensgeschichte zu erzählen, auch wenn er noch so freundlich ist.
»Im Kühlschrank sind Getränke«, sagt er. »Bedien dich.«
Dann lässt er sie in Ruhe.
Zwanzig Minuten später sind sie immer noch nicht auf der Autobahn, sondern fahren durch das Tor zu einem exklusiven Wohnviertel.
»Einen müssen wir heute noch abholen«, entschuldigt sich der Fahrer. »Dienstags ist nicht so viel los, deshalb ist das der letzte Halt. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
»Überhaupt nicht.«
Sie halten vor einem Haus, das mindestens dreimal so groß ist wie ihr eigenes und vor dem ein weiß gekleideter Junge mit seiner Familie wartet. Miracolina sieht nicht hin, als er sich verabschiedet, sondern schaut durch das andere Fenster, weil sie der Familie ihre Privatsphäre nicht rauben will. Schließlich öffnet der Fahrer die Tür und der Junge steigt ein. Er hat dunkles, perfekt geschnittenes glattes Haar, leuchtend blaue Augen und eine Haut, so blass wie feines Porzellan. Er sieht aus, als hätte er sich sein Leben lang von der Sonne ferngehalten, damit seine Haut beim Zehntopfergang weich ist wie ein Babypopo.
»Hallo«, sagt er schüchtern. Seine weiße Zehntopferkleidung ist aus glänzendem Satin, besetzt mit kunstvollem Goldbrokat. Die Eltern des Jungen haben keine Kosten gescheut. Miracolinas Zehntopferkleidung besteht aus einfacher Rohseide, ungebleicht, damit das Weiß nicht so stark blendet und auffällt. Im Vergleich dazu wirkt die des Jungen wie eine Leuchtreklame.
Die Sitze im Kleinbus sind nicht in Reihen angeordnet, sondern zeigen alle zur Mitte, wohl um die Gemeinschaft zu stärken. Der Junge setzt sich Miracolina gegenüber, zögert einen Augenblick, streckt dann die Hand aus und sagt: »Ich bin Timothy.« Sie schüttelt seine Hand, die feucht und kalt ist, wie kurz vor einer Theateraufführung in der Schule.
»Ich heiße Miracolina.«
»Wow, was für ein Name!« Er kichert verlegen. »Kann man das abkürzen, Mira oder Lina oder so?«
»Nein, nur Miracolina«, sagt sie. »Das wird nicht abgekürzt.«
»Okay, nett, dich kennenzulernen, Miracolina.«
Der Kleinbus fährt los, und Timothy winkt seiner großen Familie ein letztes Mal zu. Sie winken ebenfalls, obwohl sie ihn durch das verdunkelte Glas bestimmt nicht sehen können. Der Kleinbus fährt durch die Straßen des Wohngebiets. Noch bevor sie am Tor sind, sieht Timothy elend aus. Vielleicht hat er Magenschmerzen, aber auch die, denkt Miracolina, wären wahrscheinlich nur ein Symptom für tiefere Probleme.
Dieser Junge hat seinen Frieden mit dem Zehntopfergang noch nicht gemacht. Und wenn doch, dann war seine Seelenruhe in dem Moment dahin, in dem sich die Tür des Kleinbusses schloss und die Nabelschnur zu seinem alten Leben durchtrennte. Obwohl Miracolina seine luxuriöse Kleidung und die piekfeine Wohngegend abstoßend findet, hat sie Mitleid mit ihm. Seine Angst hängt in der Luft wie ein Spinnennetz voller Schwarzer Witwen. Niemand sollte dermaßen verängstigt sein Zehntopfer bringen.
»Die Fahrt dauert also drei Stunden?«, fragt Timothy mit zittriger Stimme.
»Ja«, antwortet der Fahrer fröhlich. »Ihr habt da hinten ein Unterhaltungssystem mit Hunderten vorprogrammierter Filme, damit könnt ihr euch die Zeit vertreiben. Bedient euch!«
»Ja, okay, klar«, sagt Timothy. »Vielleicht später.«
Ein paar Minuten lang ist er in Gedanken versunken. Dann wendet er sich wieder an Miracolina.
»Es heißt, Zehntopfer werden im Ernte-Camp besonders gut behandelt. Glaubst du, das stimmt? Es heißt immer, wir haben viel Spaß und sind mit jeder Menge anderer Kids zusammen, die genauso sind wie wir.« Er räuspert sich.
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