Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
»Angeblich dürfen wir uns sogar den Tag aussuchen, an dem wir … äh, an dem wir … na ja, du weißt schon …«
Miracolina lächelt ihn freundlich an. Normalerweise fahren Zehntopfer wie Timothy in einer Limousine ins Ernte-Camp. Kein Wunder, dass er das nicht tut. Er wollte die Reise nicht allein machen. Wenn das Schicksal sie an diesem denkwürdigen Tag schon zusammengeführt hat, will sie ihm auch die Freundin sein, die er braucht.
»Das Ernte-Camp wird bestimmt genau so sein, wie du es dir wünschst«, sagt sie. »Und wenn du das Datum festlegst, dann, weil du so weit bist. Deshalb dürfen wir es uns ja auch aussuchen. Dann ist es allein unsere Entscheidung.«
Timothy sieht sie mit seinen klaren blauen Augen an.
»Du hast überhaupt keine Angst, stimmt’s?«
Sie antwortet mit einer Gegenfrage: »Bist du schon mal geflogen?«
»Hä?« Der Themenwechsel überrascht Timothy. »Ja, schon oft.«
»Hattest du beim ersten Mal Angst?«
»Ja klar, glaub schon.«
»Aber du hast es trotzdem gemacht. Warum?«
Timothy zuckt die Schultern. »Ich wollte gern ans Ziel kommen, und meine Eltern waren bei mir und haben gesagt, es wäre okay.«
»Genau«, sagt Miracolina, »so ist es.«
Timothy sieht sie mit einer Unschuld an, die Miracolina vielleicht nie besessen hat. »Also … hast du keine Angst?«
Sie seufzt. »Doch, ich habe Angst«, gibt sie zu. »Sehr sogar. Aber wenn man darauf vertraut, dass alles gut wird, kann die Angst sogar von Vorteil sein. Du kannst sie dir zunutze machen, statt dich von ihr auffressen zu lassen.«
»Oh, verstehe«, sagt Timothy. »Das ist wie mit einem Horrorfilm. Man sieht ihn sich an, weil man weiß, dass das nicht echt ist, egal, wie sehr man sich fürchtet.« Er denkt nach. »Aber die Umwandlung ist echt. Wir spazieren nicht einfach aus dem Kino und gehen nach Hause. Ich steige nicht aus dem Flugzeug und bin im Disneyland.«
»Ich sag dir mal was.« Miracolina greift ein, ehe Timothy sich wieder in sein Spinnennetz aus Verzweiflung zurückziehen kann. »Wir sehen uns einen Horrorfilm an. Dann haben wir das hinter uns, wenn wir im Ernte-Camp ankommen.«
Timothy nickt gehorsam. »Ja, klar, okay.«
Aber als er durch die vorprogrammierte Liste scrollt, sind keine Horrorfilme dabei. Es sind lauter Familienfilme und Komödien.
»Ist auch okay«, murmelt Timothy. »Ehrlich gesagt, mag ich Horrorfilme sowieso nicht.«
Wenige Minuten später sind sie auf der Autobahn und der Fahrer drückt aufs Gas. Timothy lenkt sich mit Videospielen von seinen düsteren Gedanken ab. Miracolina steckt sich die Ohrstöpsel rein und hört statt der geistlosen Popsongs im Kleinbus ihre Lieblingsmusik. Auf ihrem iChip sind 2129 Songs, und sie ist entschlossen, vor dem Tag, an dem sie in den geteilten Zustand übergeht, möglichst viele davon zu hören.
Etwa zwei Stunden und dreißig Songs später fährt der Kleinbus von der Autobahn auf ein malerisches Sträßchen ab, das sich durch dichte Wälder windet. »Jetzt ist es nur noch eine halbe Stunde«, sagt der Fahrer. »Wir liegen gut in der Zeit!«
Dann, hinter einer Biegung, tritt er plötzlich auf die Bremse, und das Fahrzeug kommt kreischend zum Stehen.
Miracolina nimmt die Stöpsel aus dem Ohr. »Was ist denn los? Ist was passiert?«
»Bleibt hier«, befiehlt ihnen der Fahrer, nun nicht mehr so fröhlich, und springt aus dem Kleinbus.
Timothy hat bereits die Nase gegen das Fenster gepresst und sieht nach draußen. »Das kann nichts Gutes bedeuten.«
»Nein«, gibt ihm Miracolina recht. »Stimmt.«
Direkt neben der Straße im Graben sehen sie einen weiteren Kleinbus des Wood Hollow Ernte-Camps; er liegt auf dem Dach, die Räder nach oben. Es ist nicht zu erkennen, wie lange er wohl schon da ist.
»Da muss ein Reifen geplatzt sein oder so was, und dann ist er von der Straße abgekommen«, meint Timothy. Aber keiner der Reifen sieht defekt aus.
»Wir sollten Hilfe rufen«, sagt Miracolina, aber da man kein Handy ins Ernte-Camp mitnehmen darf, fällt diese Möglichkeit flach.
Da taucht draußen ein halbes Dutzend schwarz gekleideter Leute mit Skimasken über dem Gesicht auf. Sie kommen aus allen Richtungen zwischen den Bäumen hervor. Den Fahrer trifft ein Betäubungsgeschoss im Hals und er sackt wie eine Stoffpuppe in sich zusammen.
»Verschließ die Tür!« Miracolina zögert keine Sekunde. Sie stößt Timothy zur Seite, um an die unverschlossene Fahrertür zu kommen, ist aber nicht schnell genug. Sie hat gerade die Hand am Griff, da
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