Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
noch missbilligt, kann ich so unsicher sein, wie es mir beliebt.«
Ihr stellten sich immer die Haare auf, wenn er von der »Umwandlung« sprach statt vom »Zehntopfer«, als wäre es dasselbe. Ist es aber nicht. Sie vertritt die Ansicht, dass die Ungewollten und Verfluchten umgewandelt, die Gesegneten und Geliebten dagegen geopfert werden. Der Vorgang mag derselbe sein, doch die Absicht ist eine andere, und genau das ist der große Unterschied.
Ihr Name lautet Miracolina, abgeleitet vom italienischen Wort miracolo, »Wunder«. Sie trägt diesen Namen, weil sie gezeugt wurde, um das Leben ihres Bruders zu retten. Bei ihrem Bruder Matteo wurde im Alter von zehn Jahren Leukämie diagnostiziert. Die Familie war eigens wegen seiner Behandlung von Rom nach Chicago gezogen, aber nicht einmal in den Erntebanken dieses großen Landes ließ sich geeignetes Knochenmark für seine seltene Blutgruppe finden. Der einzige Weg, ihn zu retten, war deshalb, das Knochenmark zu erschaffen – und genau das taten seine Eltern. Neun Monate später wurde Miracolina geboren, die Ärzte entnahmen ihr Knochenmark aus der Hüfte und implantierten es Matteo. Ihr Bruder war gerettet. So einfach war das. Heute ist er vierundzwanzig und studiert, alles dank Miracolina.
Bereits bevor sie begriff, was es heißt, ein Zehntopfer zu sein, wusste sie, dass sie zehn Prozent eines größeren Ganzen ist. »Wir hatten zehn Embryos im Reagenzglas«, hat ihre Mutter ihr einmal erklärt. »Nur einer passte für Matteo, und das warst du. Du warst kein Zufall, mi carina. Wir haben dich ausgewählt.«
Was mit den anderen neun Embryos zu geschehen hatte, legte das Gesetz genau fest. Miracolinas Familie musste neun Frauen bezahlen, die sie austrugen. Danach konnten die Leihmütter mit den Babys machen, was sie wollten – sie aufziehen oder sie an der Haustür einer guten Ersatzfamilie storchen. »Aber egal, was es gekostet hat, es war die Sache wert«, beteuerten ihre Eltern, »sowohl für Matteo als auch für dich.«
Nun, da ihr Zehntopfergang näher rückt, tröstet Miracolina der Gedanke, dass es irgendwo neun Geschwister von ihr gibt. Wer weiß? Vielleicht wird ein Teil von ihr einem davon helfen.
Dass sie geopfert wird, hat allerdings nichts damit zu tun, dass sie der zehnte Embryo war.
»Wir haben einen Vertrag mit Gott gemacht«, haben ihr die Eltern erzählt, als sie noch klein war. »Wenn Matteo mit deiner Hilfe gerettet würde, wollten wir Gott unsere Dankbarkeit zeigen, indem wir ihm dich als Zehntopfer schenken.« Miracolina begriff schon als kleines Kind, dass solch ein Vertrag nicht so leicht gebrochen werden kann.
In letzter Zeit aber verunsichert der Gedanke an den Zehntopfergang ihre Eltern zunehmend. »Vergib uns«, flehen sie Miracolina an, häufig unter Tränen. »Bitte vergib uns, dass wir das getan haben.« Natürlich würde sie ihnen alles verzeihen, aber ihre Bitte verwirrt sie. Miracolina hat es stets als Segen empfunden, als Zehntopfer ihr Schicksal und ihre unverrückbare Bestimmung zu kennen. Warum sollte es ihren Eltern leidtun, dass sie ihr zu dieser Bestimmung verholfen haben?
Vielleicht haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie keine große Feier für Miracolina ausgerichtet haben, doch das hat sie ja selber so entschieden. »Erstens«, hat sie gesagt, »ist der Zehntopfergang eine feierliche Angelegenheit, keine ausgelassene Party. Und zweitens, wer sollte denn überhaupt kommen?«
Gegen dieses Argument waren ihre Eltern machtlos. Während die meisten Zehntopfer in reichen Familien leben und Glaubensrichtungen angehören, die Zehntopfer einfordern, wohnt ihre Familie in einem Arbeiterviertel, in dem Zehntopfer nicht gerade üblich sind. Wer in einer reichen Familie groß wird, die sich mit Gleichgesinnten umgibt, hat zum Zehntopferfest viele wohlwollende Gäste – so viele, dass diejenigen, denen nicht wohl bei der Sache ist, gar nicht weiter auffallen. Wenn Miracolina dagegen ein Fest gäbe, würden sich die meisten Gäste unwohl fühlen. Deshalb will sie ihren letzten Abend zu Hause mit ihrer Familie verbringen.
Statt zu feiern, sitzt Miracolina zwischen ihren Eltern vor dem Kamin und sieht sich mit ihnen ihre Lieblingsszenen aus ihren Lieblingsfilmen an. Ihre Mom kocht ihr Lieblingsessen, Rigatoni all’amatriciana. »Stark und feurig«, sagt ihre Mom, »genau wie du.«
Sie schläft rasch ein an diesem Abend und hat auch keine schlimmen Träume, zumindest kann sie sich später an keine erinnern. Am Morgen steht
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