Vollendung - Thriller
erzählt, warum ich nach Ihnen gesucht habe?«
»Ja. Es hat irgendwie mit der italienischen Renaissance und dem Verschwinden von Tommy Campbell zu tun.«
»Richtig.« Markham holte einen schmalen Stapel Polaroidfotos aus seiner Jackentasche. »Was ich Ihnen gleich zeigen werde, ist vertraulich, wenn wohl auch nicht mehr lange. Die Polizei von Westerly wurde als Erste an den Schauplatz gerufen – früh am Morgen, bevor die Staatspolizei eintraf und unser Außenbüro in Boston verständigt wurde. Auch wenn Campbell unten in Watch Hill verschwand, waren wir angesichts seiner Prominenz und der öffentlichen Aufmerksamkeit von Anfang an mit dem Fall befasst. Bisher konnten wir jeden Wirbel vermeiden, aber wenn erst einmal örtliche Polizeidienststellen beteiligt sind, ist die Gefahr immer größer, dass Einzelheiten an die Medien durchsickern, bevor wir sie freigeben. Höchstwahrscheinlich wird die Geschichte heute Nachmittag publik werden, aber geben Sie mir Ihr Wort, dass bis dahin alles, was ich Ihnen zeige, unter uns bleibt. Ich meine damit, dass Sie niemandem, auch nicht Ihrer Chefin Dr. Polk, von den Inhalten unserer Unterredung erzählen.«
»Ja.«
Agent Markham löste ein Polaroidfoto von dem Stapel und schob es ihr über den Tisch zu.
»Erkennen Sie die Figur auf diesem Bild?«
»Natürlich«, sagte Cathy sofort. »Das ist Michelangelos Bacchus. «
»Sind Sie sicher? Bitte schauen Sie genau hin, Dr. Hildebrant.«
Cathy gehorchte, auch wenn sie kein zweites Mal hinsehen musste. Denn obwohl das Foto die ganze Figur aus einer gewissen Entfernung und von der Seite zeigte, hätte Dr. Catherine Hildebrant – vielleicht die amerikanische Wissenschaftlerin, was das Werk Michelangelos anging – die Details des Bacchus mit geschlossenen Augen beschreiben können. Einmal mehr hatte sie Michelangelos umstrittene aber bahnbrechende Skulptur des römischen Weingottes vor sich, der betrunken und wacklig beinahe von seinem Steinsockel torkelte. Da waren die erhobene Schale mit Wein in seiner rechten Hand und das Tigerfell, die Trauben an seiner Seite. Cathy konnte auch den bocksbeinigen Satyr hinter ihm sehen, der lächelnd auf den Trauben kaut, die dem Gott aus der linken Hand rutschen. Cathy war die Statue des Bacchus so vertraut wie ihr eigener Körper – sie hatte an der Brown University darüber gelehrt. Sie war nach Italien gereist, um sie im Rahmen ihrer Dissertation über Michelangelo in Harvard zu studieren. Sie hatte ein Buch über den Bacchus geschrieben, und wenn Special Agent Markham etwas über ihn wissen wollte, dann war er ohne Frage richtig bei ihr.
»Ich kann Ihnen jedoch sagen, dass das hier eine Reproduktion ist«, sagte Cathy schließlich. »Der Hintergrund, die Büsche hinter der Statue – dieses Bild wurde im Freien aufgenommen. Das Original steht jetzt im Bargello Nationalmuseum in Florenz. Es ist allerdings eine fantastische Kopie, muss ich sagen, bis hinunter zur Farbgebung. Aber ich verstehe nicht, was das Ganze mit dem Verschwinden von Tommy Campbell zu tun hat.«
Special Agent Markham schwieg einen Moment lang, dann schob er ein weiteres Polaroidbild über den Tisch. Es war eine Nahaufnahme vom Kopf der Statue – die Krone aus Trauben, der leicht offen stehende Mund, die verdrehten Augen, der schlaff nach vorn hängende Kopf. Anders als beim ersten Bild fiel Cathy bei diesem jedoch sofort auf, dass etwas nicht stimmte.
Und nach einer Sekunde der Verwirrung traf es sie wie ein Fausthieb auf die Brust.
»O mein Gott«, stieß sie hervor. »Das ist er! Das ist Tommy Campbell!«
»Ja. Man fand ihn heute Morgen unten in Watch Hill, im Garten des CEO einer Investmentfirma, keinen Kilometer vom Haus seiner Eltern entfernt. Sie haben ihn bereits identifiziert. Wie es aussieht, hat sein Mörder die Leiche irgendwie konserviert und zu dieser Pose geformt, die man hier sieht – bis hinunter zur Farbgebung, wie Sie sagten.«
Cathy rang mühsam um Fassung, sie war kaum in der Lage, ein Wort herauszubringen.
»Wer? Ich meine, wer tut so etwas?«
»Das eben hoffen wir mit Ihrer Hilfe herauszufinden, Dr. Hildebrant. Wir haben inzwischen ein Spurensicherungsteam für eine vorläufige Untersuchung da unten im Einsatz, aber Sie müssten einen Blick auf den Tatort für uns werfen, ehe wir die Leichen entfernen.«
»Die Leichen? Sie meinen der Satyr – das ist ebenfalls ein echter Mensch?«
»Ein Junge, ja«, sagte Markham mit matter Stimme. »Besser gesagt die obere Hälfte von ihm.
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