Vollidiot
allerdings noch nicht unter meine Ellenbogen, so weit ist es dann doch noch nicht.
»So weit ist es dann doch noch nicht!«, sage ich leise zu mir selbst.
Die beiden Verkäuferinnen in der Bäckerei neben dem Jeans-Store besprühen die Schaufensterscheibe mit einem weihnachtlichen Schneespray. Insgesamt sprühen sie genau acht Sterne und einen Schneerand an den Rahmen. Dahinter hängen sie eine Lichterkette aus Nikoläusen. Ich bin nicht besonders begeistert, weil ich jetzt viel schlechter in die Bäckerei sehen kann. Enttäuscht setze ich mich auf meinen Sessel. Ich könnte das Total Gym ausprobieren, habe aber keine Lust. Wahrscheinlich weil ich gerade gegessen habe. Ich überlege, ob ich nicht doch kurz mein Handy einschalten sollte, um zu sehen, ob mich jemand sprechen wollte. Letztendlich habe ich aber doch zu viel Angst davor, dass mich keiner sprechen wollte, und ich lasse es aus. Mir kommen Zweifel an meiner freiwilligen Einigelung. Was mache ich bloß in den nächsten Tagen? Doch in den Urlaub? Obwohl – da war ich ja gerade und bin fix und fertig zurückgekommen. Außerdem hätte ich mich bei der Polizei abmelden müssen, wegen der ganzen Handygeschichte. Ich mag gar nicht dran denken. Ich muss erst mal zur Ruhe kommen.
Und das geht wohl am besten in gewohnter Umgebung. Um mich abzulenken, stecke ich alle Handtücher, die ich finde, in meine Waschmaschine und stelle den Temperaturregler auf 60 Grad. Vier Extraprogramme habe ich zur Auswahl: Vorwäsche, Einweichen, Kurz und Flecken. Den Fleckenknopf kenne ich noch gar nicht. Ob das funktioniert? Ich öffne die Trommel, ziehe ein weißes Handtuch heraus und gieße ein wenig Rotwein von gestern darüber. Dann stopfe ich das Tuch wieder in die Maschine, gebe Waschmittel dazu und stelle den Regler auf das Programm Flecken. Zur Belohnung für die tolle Idee mache ich mir einen Kaffee und setze mich in den Sessel. Erst als ich den Kaffee leer getrunken habe, rauche ich eine Zigarette. Ich muss sparsam mit den wenigen Aktivitäten umgehen, die mir geblieben sind.
Als ich die Zigarette ausdrücke, komme ich auf die Idee, meine Küche auszumisten. Ich nehme mir einen Stuhl aus dem Wohnzimmer und mache mich an das oberste Fach meines Lebensmittelregals. Unglaublich, was sich da im Laufe der Jahre angesammelt hat. Die meisten Sachen müssen weg, weil sie abgelaufen sind. Ich eliminiere eine ranzige Packung Parboiled Reis von Reisetti, mindestens haltbar bis 12/01, eine Dose Thunfisch, verfallen im Oktober 02, und Mildes Weinsauerkraut aus Omas Krautfässchen aus dem Jahr 00. Mein bisheriger Spitzenreiter ist eine vertrocknete Plastikpressflasche Flotte Biene Gebirgsblütenhonig, die laut Aufdruck bereits im Jahr 99 ungenießbar wurde. Nach einer Stunde Sortieren und insgesamt sechs Lebensmittelfächern halte ich den Sieger des kleinen Ekelwettbewerbs in meiner Hand, haltbar bis Juli 1995. Es ist eine rotgelbe Packung Maggi-Fix-Broccoli mit dem Aufdruck Ideal auch für Blumenkohl. Eine Packung aus dem letzten Jahrtausend, das muss man sich mal reintun! 1995, das heißt auch, dass ich mit dieser Packung insgesamt drei Mal umgezogen bin! Unglaublich! Was ich an meiner Packung Maggi-Fix-Broccoli-Gratin allerdings noch verwunderlicher finde, ist der kleine Zusatzvermerk: Ideal auch für Blumenkohl. Also was jetzt? Für das EINE Gemüse ist es gemacht, aber für ein ANDERES ideal? Oder ist es scheißegal, auf welches Gemüse man das Zeug kippt? Wenn dem so wäre, dann hätte man statt Maggifix-BROCCOLI-Gratin auch Maggifix-BLUMENKOHL-Gratin auf die Packung schreiben können mit dem Hinweis Ideal auch für Broccoli, aber sicher gab es da eine Marktforschung vorher, und man hat sich dann letztendlich für Broccoli entschieden, weil Blumenkohl irgendwie zu deutsch und altmodisch klingt und an die Nachkriegszeit erinnert und an frisch gebohnerte Mietshäuser und Trümmerfrauen womöglich, die sich mit einer Kohlsuppe stärken mussten, bevor sie das kaputtgekloppte Deutschland wieder aufbauten. Es ist eine Frechheit, mit welch eiskaltem Kalkül die international operierende Gratin-Mafia durch ihre fahrlässigen Produktbezeichnungen zum Identitätsverlust einer ganzen Nation beiträgt! Ich notiere mir die Nummer des Maggi-Kochstudios, bevor ich die Tüte neben die Herdplatte lege. Als ich mir zur Belohnung für die tolle Putzarbeit eine Zigarette anzünden will, piepst mir meine Waschmaschine, dass ich sie gefälligst ausräumen soll. Ich ziehe die feuchten Handtücher in
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