Vollmondkuss
Partysaal.
»Dreh dich um«, wisperte er.
Jolin schluckte. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken. - Er will die Prophezeiung erfüllen. - Er wird sich die zwölf Mädchen holen. — Ich bin keine Jungfrau mehr, also braucht er mich nicht. — Er wird mir seine Zähne in den Hals schlagen, und diesmal wird ihn niemand daran hindern. - Jolin spürte, dass ihr schwindelig wurde.
»Wenn du dich umdrehst, brauchst du nur geradeaus bis zur Tür gehen«, hörte sie Vincent sagen. »Wir sehen uns dann später.«
Was? Jolin schüttelte sich. Der Schwindel verging, und sie sah, dass Vincent wieder in die Dunkelheit des Ganges eingetaucht war. In der nächsten Sekunde verschwand er völlig, so als ob er sich vor ihren Augen in Luft aufgelöst hätte.
Jolin stand einen Augenblick wie erstarrt, dann entschied sie sich, ihm zu folgen. Lautlos huschte sie den Gang hinunter, und als sie die Stelle passierte, an der er verschwunden war, stellte sie fest, dass es dort weder eine Tür noch einen Abzweig oder eine Nische gab. Vincent musste sich tatsächlich aufgelöst oder schlichtweg durch die Wand oder den Boden gegangen sein. Jolin streckte ihre Finger aus und berührte die groben Steine. Da die Burgmauern so, wie sie sie an diesem Abend wahrnahm, in Wirklichkeit nicht oder nicht mehr existierten, gab es womöglich brüchige Stellen, durch die auch sie von einem Raum in den nächsten wechseln konnte. Doch die Steine, die Jolin betastete, fühlten sich ausnahmslos hart und fest und fast schon beängstigend echt an. Während sie tiefer und tiefer in den Gang hineinlief, rief sie im Stillen nach Roubens Mutter. Ramalia! Wo bist du?, Welches Spiel spielst du?, dachte sie verzweifelt. Zeig dich doch endlich, und sag mir ins Gesicht, ob du tatsächlich den einen deiner Söhne für den anderen opfern willst!
Dieser Gedanke erschütterte Jolin bis ins Mark, denn er machte ihr schlagartig bewusst, dass nicht nur ihre Stufenkameraden und sie selbst, sondern möglicherweise auch Rouben die Mittenachtsstunde nicht überleben würde.
Zitternd vor Entsetzen hastete sie weiter und stand kurz darauf völlig unvermittelt am Ende des Ganges. Und hier gab es dann tatsächlich eine Nische. Eine Nische, in der sich eine weitere Tür befand. Beherzt umfasste Jolin die Klinke. Die Tür klemmte, doch schließlich öffnete sie sich leise ächzend. Dahinter war nichts als undurchdringliche Finsternis.
Jolin krallte ihre Finger ins Mauerwerk, tippte mit ihrer Schuhspitze in die Dunkelheit und fühlte - nichts. Erschrocken zog sie ihren Fuß wieder zurück. Eine Stufe!, dachte sie dann. Vielleicht war da nur eine Stufe. Jolin versuchte es noch einmal. Sie streckte das Bein vor und gab vorsichtig im Knie des anderen nach. Kurz darauf spürte sie tatsächlich festen Boden unter ihrer Schuhsohle. Jolin setzte den Fuß auf und ging weiter, langsam und konzentriert, Stufe für Stufe, die Hände zu beiden Seiten an festem Mauerwerk entlangtastend im Kreis herum. Kein Zweifel, sie befand sich auf einer Wendeltreppe, die sie in die Tiefe führte. Jolins Herz klopfte hart gegen ihr Brustbein. Hoffentlich war es die Wendeltreppe, über die Ramalia sie in der letzten Woche in dieses Souterrain-zimmer getragen hatte.
Plötzlich griff sie mit ihrer linken Hand ins Leere. Offenbar hatte sie das untere Stockwerk erreicht. Noch immer konnte sie nichts erkennen, denn hier war es genauso stockfinster wie auf der Treppe. Behutsam setzte Jolin einen Fuß vor den anderen. Der Boden war uneben und rau und die Wand, an der sie sich abstützte, noch feuchter als jene im oberen Gang.
Als sie den nächsten Schritt machte, stieß sie mit der Hüfte gegen einen Widerstand. Im nächsten Moment flackerte etwas unmittelbar vor ihr hell auf. Jolin zuckte zurück. Dann sah sie, dass es ein Bildschirm war, der Monitor eines Laptops, der vor ihr auf einem morschen Holztisch stand. Der Bildschirm färbte sich schwarz, und dann las sie in blutroten Lettern noch einmal die Prophezeiung.
Einmal nur in eintausendzweihundert Jahren,
sobald Vollmond und Wintersonnenwende sich einander nähern,
wird es geschehen,
daß die Zukunft sich an die Vergangenheit erinnert und
ein Jüngling ans Tageslicht tritt,
der in seinem neunzehnten Lebensjahr
um Punkt Mitternacht
vor dem Antlitz des vollen Mondes
zwölf jungfräuliche Mädchen küsst,
um die Blutschande seiner Anverwandten reinzuwaschen
und hernach für immer von den Untoten aufzuerstehen...
Jolin hörte für ein paar
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