Vollmondkuss
erstaunt.
Rouben zuckte mit den Schultern. »Ich hab sie jetzt
zwei Jahre nicht mehr gesehen. Und in der letzten Zeit hatten wir nicht gerade übermäßig viel Kontakt.«
Jolin beschlich ein seltsames Gefühl. Sie hatte beinahe den Eindruck, als ob Rouben weniger wusste als sie. Aber war das überhaupt möglich? »Verrätst du mir ihren Vornamen?«, fragte sie leise.
»Klar, wieso nicht? Sie heißt Ramalia.« Rouben lächelte. »Ein schöner Name, nicht?«
Jolin nickte. »Ein sehr schöner Name«, brachte sie mühsam hervor. Sie spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pulsierte. »Kennst du die Prophezeiung?«, fragte sie so leise, dass sie es selbst kaum verstand.
»Die Prophezeiung?«, wiederholte Rouben laut fragend. »Nein. Was soll das sein?«
Erschrocken hob Jolin die Hand. Fast hätte sie ihm die Finger auf die Lippen gedrückt, doch dann besann sie sich anders. Offenbar hatte niemand um sie herum gehört, worüber sie sprachen. Verstohlen musterte sie Rouben und versuchte, jede noch so winzig kleine Regung in seinem Gesicht zu erfassen. Seine Verwunderung und die Neugier, mit der er nachgefragt hatte, erschien ihr ebenso ehrlich zu sein wie eben noch seine Sorge um sie.
»Nicht so wichtig«, sagte Jolin. Wieder spürte sie diesen merkwürdigen Schwindel, der von ihrem Herzen ausging, und gleichzeitig bohrte sich eine entscheidende, eine alles verändernde und zutiefst aufwühlende Frage in ihren Kopf. War es wirklich möglich, dass Rouben gar nicht wusste, was in dieser Nacht und in dieser Burg auf dem Höhepunkt seiner Party mit ihm geschehen sollte? Konnte es sein, dass er diesbezüglich tatsächlich vollkommen ahnungslos war? Unvorstellbar eigentlich. Und doch erschien es Jolin mit einem Mal absolut plausibel. Ich muss ihn warnen, war ihr erster Gedanke. Doch was, wenn er ihr nicht glaubte? Wenn er das Ganze für einen Scherz hielt und nicht ernst nahm? Nein, Jolin musste Ramalia finden. Sie war am Abend ihrer Geschichtsexkursion in der Ruine gewesen, und sie würde ganz sicher auch heute hier sein.
»Hör mal«, sagte Rouben. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich dich ein paar Minuten dir selbst überlasse. Es ist zwar illusorisch, dass ich mich um jeden Gast kümmere«, sagte er. »Aber ich möchte wenigstens mit allen aus der Klasse ein paar Worte wechseln.«
»Kein Problem«, erwiderte Jolin. Im Gegenteil, es war ihr sogar sehr recht. »Ich seh mich derweil einfach ein bisschen um.«
Während Rouben auf einen schlaksigen Typen zusteuerte, den sie nur vom Sehen kannte, warf Jolin einen Blick zum Buffet und bemerkte, dass Klarisse zu ihr herüber-starrte. Sie nippte an einem schwarzen Getränk, das sich in einem schmalen langen Glas befand. Rebekka, Katrin, Susanne und Melanie waren auf der Tanzfläche. Anna stand als Einzige noch immer bei Klarisse. Sie war wirklich eine treue Seele. Diese Erkenntnis durchflutete Jolin mit einem warmen Gefühl. Als hätte ihr jemand einen Schleier von den Augen gerissen, sah sie Anna mit einem Mal nur noch als Anna. So wie sie war: manchmal ernst, manchmal spinnert, hin- und hergerissen zwischen großen Plänen und banalen menschlichen Bedürfnissen, aber immer absolut verlässlich. Ich mag dich, dachte Jolin. Ich mag dich so sehr. Und genau das werde ich dir endlich einmal sagen, nachher, wenn alles vorbei ist.
Sie leerte ihr Glas, wobei sie überrascht feststellte, dass die kristallene Flüssigkeit unter der Pfefferminzkuppe einfaches, erfrischendes Mineralwasser war, und stellte es auf einen der großzügig im Saal verteilten chromglänzenden Bistrotische. Nach einem weiteren Ausgang suchend, ließ sie ihren Blick über die rot getünchten Wände gleiten. Es fiel ihr schwer, sich zu orientieren. Jolin vermutete zwar, dass sie sich in dem Teil der Burg befand, von dem in Wahrheit nur noch das Obergebäude existierte, aber wirklich sicher war sie sich nicht. Außerdem konnte sie in keiner Weise abschätzen, wie lange Ramalia sie durch die Burg geschleift hatte, und schon gar nicht, welche Strecke sie dabei zurückgelegt hatten. Jolin wusste nur noch, dass eine enge Wendeltreppe in den Vorraum des Souterrainzimmers führte und dass das Felsenfenster, aus dem sie geflohen war, auf der gegenüberliegenden Seite des Hügels lag.
Nach wenigen Sekunden war Jolin klar, dass der Partysaal hermetisch abgeriegelt war. Es gab nur diesen einen Eingang vom Wehrgang her. Sobald dieser geschlossen würde, waren alle darin gefangen. Ein beklemmendes Gefühl
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