Vollmondkuss
den freien Flächen zwischen den kleinen quadratischen, mit Eisengittern versehenen Fenstern waren riesige Spiegel in prächtigen schwarzen Schnörkelrahmen angebracht, und von der Deckenmitte hing ein mächtiger prunkvoller Kronleuchter herab. In seinen rot schillernden Glaspailletten brachen sich gleißend helle Laserlichtstrahlen, die im Rhythmus der stampfenden Beats aus einer kombinierten Music-Lightshow-Anlage kamen und in schneller Abfolge durch den Raum fetzten.
»Was möchtest du trinken?«, fragte Rouben. Jolin zuckte zusammen. Sie hatte der Unterhaltung zwischen Tanja, Simone und Annabelle so konzentriert gelauscht, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass er ihr gefolgt war.
»Keine Ahnung. Was gibt es denn so?«
»Alles, was du willst.«
Jolin sah ihn unschlüssig an. Am liebsten hätte sie ein einfaches Mineralwasser genommen, doch das schien ihr in Anbetracht einer solchen Kulisse viel zu profan.
»Okay, dann bring ich dir einen schönen Drink, der zu dir passt«, sagte Rouben lächelnd. Ehe Jolin etwas1 erwidern konnte, war er bereits verschwunden. Sie lehnte sich neben einem der großen Spiegel gegen die Wand und blickte sich um. Der Partysaal hatte sich mittlerweile mit den unterschiedlichsten Leuten gefüllt. Jolins Stufenkameraden machten dabei den geringsten Teil der Gäste aus. Die meisten Leute waren ihr fremd und schienen wesentlich älter zu sein als Rouben. Fast alle waren schwarz gekleidet, hatten dunkle Haare, dunkle Augen und eine nahezu makellose weiße Haut. Die Männer trugen Anzüge, Gehröcke oder knielange Umhänge, die Frauen Kleider aus der Endzeit des neunzehnten Jahrhunderts, und fast alle waren grell geschminkt.
Die beiden älteren Damen, die aus der Kutsche gestiegen waren, standen auf der Tanzfläche und bewegten sich in langsamen bizarren Gesten zur lauten, für Jolins Geschmack etwas zu martialischen Musik. Anna stand zusammen mit Klarisse, Rebekka und den anderen schräg gegenüber an der Cocktailbar, die den krönenden Abschluss einer langen, üppig beladenen Buffettafel bildete. Sie scherzten mit Rouben, der sie freundlich lächelnd mit Cocktails versorgte und sich schließlich von ihnen löste und zu Jolin herüberkam.
»Bitte schön«, sagte er und reichte ihr ein kelchförmiges Glas. Es war zu gut zwei Dritteln mit einer kristallklaren Flüssigkeit gefüllt, auf der eine cirka drei Zentimeter breite leuchtend blaue Substanz schwamm. »Ich hoffe, du magst es.«
Jolin drehte das Glas hin und her und begutachtete argwöhnisch seinen Inhalt. »Willst du uns alle betrunken machen?«
Rouben lachte. »Natürlich nicht.« Er berührte sie flüchtig mit den Fingerspitzen an der Hand. »Jetzt probier schon! Ich habe nämlich selber keine Ahnung, wie es schmeckt.«
Zögernd setzte Jolin ihre Lippen an den Rand, der mit einer süßsauren Zuckerkruste versehen war, und nahm einen kleinen Schluck. Die blaue Substanz war nicht so dick wie Sirup, aber weitaus behäbiger als Wasser oder Limonade. Sie schmeckte erfrischend pfefferminzig und hinterließ beim Hinunterschlucken einen Hauch von exotischen Früchten auf Jolins Zunge.
Erwartungsvoll sah Rouben sie an. »Und?«
Jolin nickte. »Gut. Wirklich gut.«
»Gut oder mehr als das?« In Roubens Augen blitzte es. Sie waren voller Wärme und leuchteten in demselben Schokobraun wie in der Neumondnacht.
Jolin spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Sie hatte das Gefühl zu taumeln und war froh, die feste Wand in ihrem Rücken zu spüren.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rouben. Das Leuchten in seinen Augen war verschwunden. Er sah nun ehrlich besorgt aus. »Ich dachte schon, du wirst ohnmächtig. Dabei ist in dem Zeug wirklich nur eine Spur Alkohol.«
»Schon gut«, sagte Jolin. Sie fühlte sich immer noch ein bisschen zittrig. »Ich glaube nicht, dass es an dem Zeug lag.«
»Sondern?«
An dir, Rouben, dachte Jolin. Ganz allein an dir. Es fiel ihr schwer zu begreifen, dass sie jetzt, in dieser Sekunde, neben ihm stand, über belanglose Dinge mit ihm redete und dabei an ihre Liebesnacht zurückdachte, während zugleich in ihrer Phantasie erschreckend apokalyptische Bilder den Ausgang dieser Party betreffend entstanden. »Sind deine Eltern eigentlich auch hier?«, hörte sie sich fragen.
»Meine Mutter. Natürlich.«
»Und sonst?«
»Du wirst lachen«, sagte Rouben. »Aber die meisten meiner Gäste kenne ich selbst nicht. Meine Mutter hat sie eingeladen. Glaube ich wenigstens.«
»Du glaubst!«, fragte Jolin
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