Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Miss Linley«, er zögerte und suchte die richtigen Worte, »Miss Linley ist also mit euch gereist. Das ist ja schön, wenn eine Frau mit an Bord eines Schiffes ist, oder?«
Das Gesicht des Jungen blieb ausdruckslos. »Ich weiß nicht«, murmelte er.
»Warum? Was meinst du?«
»Naja, sie war, naja, sie war erst ein Mann. In Tahiti haben es die Wilden bemerkt.«
»Dass sie eine Frau ist?«
Ein Nicken.
Landon beschloss, den Jungen nicht weiter mit seinen Fragen zu bedrängen. Er öffnete den Brief.
William Middleton, ich verneige
mich vor dir, alter Mann
, dachte er,
du kennst Mary gut. Wirklich gut.
Er faltete das Papier auseinander. Ein zweiter, kleinerer Umschlag fiel heraus, der an Henriette Fincher adressiert war. Wenn der Junge die Geschichte kennt, kennt sie auch die gesamte Besatzung der
Sailing Queen
. Sie wird schneller durch die Salons gehen als eine Pockenepidemie durch die Stadt. Ich muss Henriette und William informieren. Er seufzte, strich das Papier glatt und erkannte die feine, steilgeschwungene Handschrift, die immer wieder in den Schriften der Wunderkammer auftauchte.
Lieber Landon,
dieses armselige Papier wird nicht ausreichen, das Schuldgefühl, das ich Dir gegenüber mit mir herumtrage, in Worte zu fassen. Ich habe eine Ahnung, was ich Dir angetan habe, als ich heimlich die Stadt verließ. Doch ich musste diesen Schritt gehen, um meiner Berufung zu folgen. Tatsächlich ist es ist mir gelungen, wissenschaftlich zu arbeiten, mich durchzusetzen und für meine Leistung die entsprechende Anerkennung zu bekommen.
Es würde mich glücklich machen, Dir auch nur den Hauch einer Ahnung vermitteln zu können, welche Verzweiflung mich damals bewogen hat fortzugehen. Solltest Du mir nicht verzeihen können, so kann ich das verstehen, dennoch möchte ich Dich bitten, Dir kurz die Zeit zu nehmen und den Brief bis zum Ende durchzulesen. Denn ich habe, auch wenn es unverfroren und vielleicht ein Stück weit anmaßend ist, eine Bitte an Dich.
Du hast diesen Brief – so hoffe ich – von Seth Bennetter erhalten, der als Schiffsjunge an Bord der Sailing Queen war. Er ist aufgeweckt und wissbegierig, vernarrt in das Schreiben, ein Talent im Rechnen und hat mir bei meinen Arbeiten geholfen. Ihn zeichnen Geduld und Akribie aus, und er ist ein Junge, der mit seinem Intellekt und seiner Gutherzigkeit sicherlich perfekt als Lehrling in
Dein Kontor passen würde. Er hat ein schweres Schicksal erlitten: Auf der Reise verlor er Vater und Bruder. Seine Mutter verschied bereits vor der Abreise, und andere Verwandte sind ihm nicht bekannt. Auch wenn eine Laufbahn in der Seefahrt für ihn sicherlich einzurichten ist, vermute ich, dass dies nicht seinem Wunsch entspricht. Wenn Du Dir vorstellen kannst, den Jungen bei Dir in Lohn und Brot zu nehmen, dann würdest Du nicht nur mir ein großes Glück bereiten, sondern sicherlich auch ihm.
Davon ausgehend, dass ich irgendwann die Heimat wieder erreiche, und darauf hoffend, dass Du dann noch mit mir sprichst, verbleibe ich mit dem größten Dank für Deine Geduld, mit der Du meinen Ausführungen bis hierher gefolgt bist,
Deine Mary
PS: Würdest Du den Brief an Henriette weiterleiten oder Seth bitten, ihn vorbeizubringen?
Seth. Seinen Namen hatte der Kleine genannt, doch er war ihm bereits wieder entfallen. Seit er den Brief geöffnet hatte, hatte sich der Junge nicht mehr bewegt, den Tee nicht angerührt und den Blick nicht von seinem Gesicht genommen.
Landon wusste nicht, ob ihm zum Lachen oder zum Fluchen zumute war. Er wusste nicht, ob er Marys Bitte als unangemessen oder schlichtweg als ungewöhnlich, aber damit typisch für sie beurteilen sollte. Nochmals blickte er auf den Jungen und seufzte.
Tahiti, 9. September 1787
Owahiri nahm die Kokosnuss, die mit Wasser gefüllt war, und spülte seine Hände ab. Er reichte die Schale an seinen Bruder weiter, der sich ebenfalls die Hände wusch, und erst dann begannen sie, schweigend zu essen. Gebackenen Fisch mit Bananen und Schweinefleisch hatten sie sich zubereitet, ein Gericht, das beide mochten, doch heute stocherten sie lustlos darin herum. Irgendwann schlugen sie die Bananenblätter über den Resten zusammen, schoben sie beiseite und wuschen sich erneut die Hände. Noch immer hatten sie kein Wort gesprochen, es gab nichts zu sagen.
Owahiri streckte sich auf seiner Matte aus, verschränkte die Arme im Nacken und starrte in den Himmel, der sich tiefblau mit wenigen Wolken, die leicht
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