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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Dich sorgen, aber ob das in Deinem Sinne ist, kann
ich nicht beurteilen. Eventuell nimmt Landon Reed dich in die Lehre, dann hättest Du eine Wahl.
    Lieber Seth, ich wünsche Dir aufrichtig das Allerbeste für Deine Zukunft und danke Dir von Herzen für die gemeinsamen Stunden, die wir miteinander verbracht haben. Nicht eine davon möchte ich missen.
     
    Deine Mary Linley
     
    Seths Kinn und Lippen zitterten. Langsam stand er auf und legte den Brief wie auch die Schreibutensilien in die Kiste zurück. Der Druck in seinem Bauch war unerträglich geworden.

Tahiti, 16.   Juni 1787
     
    Konzentriert zog sie den Stock durch den weißen Sand, mit dem der Boden der Hütte ausgestreut war. In wackeligen Linien fügte sich Letter an Letter, bis der Name T-U-P-A-I-A zu lesen war. »Ist das richtig so?«, fragte Revanui und schaute Mary an.
    »Ja, so schreibt man den Namen deines Sohnes in unserer Sprache.«
    »Schön sieht das aus.«
    »Es ist auch ein schöner Name.«
    Ein versonnenes Lächeln ging über Revanuis Gesicht.
    Mary sah sich um. Owahiris Haus war großzügig geschnitten, es maß knapp vierzig Fuß an jeder Seite. Die Familie hatte Platz, mehr Platz, als ihr lieb war. Seit dem Fieber fehlten drei Mitglieder. Owahiris Mutter und zwei von Revanuis Schwestern waren der Krankheit erlegen. Sie hatten mit zu den letzten Opfern gehört, die sich das Fieber geholt hatte, als niemand mehr daran dachte, dass es noch einmal aufflackern könnte. Die leeren Schlafstellen, Revanuis verweinte Augen und Owahiris dumpfes Schweigen – der Schmerz hatte für Wochen eine Schneise in die Familie geschlagen, die unüberbrückbar schien.
Aber sie haben noch ihren Sohn,
dachte Mary.
Jeden Tag können sie ihn in den Arm nehmen und den Geruch seiner sonnengewärmten Haut und seines salzverkrusteten Haares riechen. Sie können erleben, wie er heranwächst.
    Mit dem Stock zog Revanui die Linien der Buchstaben nach.»Vielleicht sollte ich mir diese Zeichen eintätowieren. Was denkst du?«
    Mary nickte nur. Ihr Herz zog sich zusammen. Dass sie nach ihrer Genesung nicht in die Hütte am Strand zurückkehrte, war außer Frage gestanden. Die Familie hatte sie aufgenommen, in ihre Mitte, und doch war sie eine Fremde geblieben. Owahiri, revanui, Tupaia – sie hatten einander. Und sosehr Mary den Gedanken daran mied, jede einsetzende Blutung führte es ihr vor Augen: Sie hatte kein Kind von Carl empfangen, Monat um Monat wurde das Gefühl der Leere in ihr erneut aufgerissen und drang aus ihr heraus.
    Flugs wandte sie den Kopf ab und hielt das Gesicht in den Wind. Die Schmalseiten des Hauses waren offen und ermöglichten einen Ausblick, der überwältigend war. Gen Norden konnte man den Strand einsehen und die türkisfarbene Lagune. Im Süden lag das Viapoopoo-Tal, in der Entfernung erhob sich der Orohena mit seinen Schluchten und grob aufragenden Felsen.
    Das Schlimmste waren die Nächte, denn in ihren Träumen tauchten sie alle wieder auf. Carl, William, Henriette. Auch der Vater war ihr erschienen, und selbst von Landon Reed und James Canaughy hatte sie geträumt. Immer wieder ähnelte sich die Szene: Die Lebenden und die Toten saßen beisammen. In Plymouth, im Garten hinter dem Haus, neben dem wilden Wein. Der Tisch war gedeckt, nur ein Platz blieb frei, und gemeinsam warteten sie darauf, dass Mary zurückkam. Mehrfach war sie aus diesem Traum aufgeschreckt, auch in dieser Nacht.
    Die Sonne stand im Zenit, als sie sich erschöpft erhob und zu ihrer Matte hinüberging. Eine kleine Mittagsruhe würde ihr guttun. Tagsüber blieb ihr Schlaf seltsam traumfrei. Ihr Blick wanderte am Kap Venus entlang über das Riff hinweg.
    Das Schiff war noch weit entfernt. Es würde dauern, bis es die Enge in die Bucht hinein passieren würde.
    Sie legte sich nieder, schloss die Augen und schlug sie wieder auf.
    Ein Schiff?
    Ein Schiff!
    Am Horizont war ein Schiff zu erkennen!
    Ein Dreimaster mit Kurs auf die Insel.
    Mary sprang auf und lief vor die Hütte, um besser sehen zu können.
Egal, woher die Mannschaft kommt, sie muss mich mitnehmen. Selbst wenn sie mich in Batavia oder am Kap der guten Hoffnung absetzen, habe ich von dort immer noch mehr Chancen weiterzureisen.
    Ein ums andere Mal hatte sie den Plan im Kopf durchgespielt: Sobald ein Schiff auftauchen würde, musste sie die Arbeiten abbrechen und alles in Kisten verstauen. Sie wusste, es würde noch eine Weile dauern, bis die Mannschaft den Strand erreichte. Ihr blieb genug Zeit, ein Bad zu nehmen, das

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