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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Segelmacher lief an ihnen vorbei, das Bramsegel unter dem Arm.
    »Wollen wir hoffen, dass wir unsere Ankunft noch erleben«, sagte der Kapitän. Er zwirbelte die Spitze seines Bartes und schaute Mary direkt an. »Genug der Scherze. Dass das Schiff in einem besorgniserregenden Zustand ist, wird Euch aufgefallen sein. Doch das soll nicht Eure Sorge sein.«
    Er ließ die Bartspitze los, und der Wind riss die ineinandergedrehten Haare auseinander.
    »Ich möchte wissen, ob wir Euch, bevor wir in Plymouth einlaufen, von Bord bringen sollen? Vielleicht möchtet Ihr erst einmal unerkannt nach Hause reisen.« Er griff sich wieder an seinen Bart.
    »Lasst mich die Frage andersherum formulieren: Möchtet Ihr, dass ich früher von Bord gehe? Ist Euch der Gedanke unangenehm?«
    Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Nein, da täuscht Ihr Euch, es geht mir um Euer Wohlbefinden.«
    Vor ihrem inneren Auge sah Mary die Kisten, die im Ladedeck einen Großteil des Raumes einnahmen. Pflanzen, Samen, Insekten, Felle, Gesteinsproben, Waffen und Gebrauchsgegenstände aus ungezählten Regionen dieser Welt. Skizzen, Zeichnungen und Texte, zum Teil noch von Carl aufs Papier gebracht. Ihr wurdewarm ums Herz. Kostbarstes Gut, das sie nach Hause brachte und das sie nicht alleinlassen konnte. Tag für Tag hatte sie während der Heimreise am kleinen Tisch in ihrer beengten Kajüte gesessen und weiter daran gearbeitet. »Habt Dank für Eure Fürsorge, aber ich möchte in Plymouth von Bord gehen.«
Ich werde es jetzt zu Ende bringen. Mit aller Konsequenz,
dachte sie und zuckte zusammen, als zeitgleich der Ruf erscholl: »Land in Sicht!«
Das ist das letzte Mal, dass ich diesen Ruf höre.
Sie schaute zum Horizont.
    Der Kapitän legte ihr die Hand auf die Schulter, drückte sie und eilte davon.
    Marys Augen brannten vom Wind und konnten doch nichts entdecken. Der Horizont blieb öde und leer.
    »Da, da hinten. Es ist kaum zu erkennen.« Der Arm des Matrosen neben ihr fuhr vor und deutete in den Dunst.
    Ein Schatten.
    Ein farbloser Schatten, der erste Konturen annahm. Die Klippen von Land’s End schälten sich mit jeder Sekunde, die verging, deutlicher aus dem Grau heraus.
    Unruhe brach aus. Ein Großteil der Mannschaft kletterte in die Masten, sodass Mary fürchtete, das Schiff könnte topplastig werden. Trauben von Männern hingen in der windigen Höhe, umklammerten die Wanten und ließen den Schatten nicht aus den Augen.
    Kein Gejohle ertönte, keine Mützen, die in die Luft geworfen wurden, keine Lieder, die angestimmt wurden. Regungslos schaute ein jeder aufs Wasser hinaus, der Heimat entgegen, und malte sich sein Wiedersehen mit der Familie und Freunden aus.
    Carl, was wäre gewesen, wenn wir gemeinsam die Rückfahrt angetreten hätten? Auch wenn ich weitergesammelt habe, wie viel prachtvoller wäre unsere Sammlung heute? Wie wäre es, jetzt deinen Arm zu spüren, mich gegen deinen wärmenden Körper zu lehnen. Sicherlich würden wir beide gerade jetzt gemeinsam daran denken, von nun an in der Gesellschaft als Paar aufzutreten. Sir Carl Belham und Miss
Mary Linley. Vielleicht würden wir beide gerade jetzt daran denken, eine Familie zu gründen und das vermutlich erste Forscherehepaar der Welt zu werden.
    Ihre Finger gruben sich in die Hosentasche, spürten das kalte Metall des Medaillons, die feinen Linien auf dem Deckel, seine ovale Form. Ihre Hand schloss sich.
    Aber so ist es nun: Wir haben keine Rückfahrt mehr angetreten. Ich komme allein, bin ohne dich schutzlos, und das werden sie mich sicher spüren lassen.

Plymouth, 24.   Mai 1788
     
    Sie strich noch einmal die Wäsche glatt und richtete sich auf, senkte den Deckel der Kiste und schob die Schlösser zu. Da war dieser unangenehme Druck in ihrem Hals, die Adern, in denen das Blut pulsierte, als wären sie zu klein geworden. Es war zu kühl für das tahitianische Kleid, doch sie hatte keine Wahl. Das Haar trug sie zusammengebunden, der Mode entsprechend, die sie aus der Zeit der Abreise in Erinnerung hatte.
    Bei Falmouth, als sie den Hafen passierten, hatte ein Dreidecker der Königsflotte beigedreht, die Zweiunddreißig-Pfünder geladen und das weitgereiste Schiff mit Salutschüssen begrüßt. Stolz hatte Mary in diesem Augenblick erfüllt. Stolz auf die Mannschaften der
Sailing Queen
und der
Challenge
und die großartigen Kapitäne, die so anders waren als der Ruf ihres Berufsstandes. Und Stolz darauf, nach England zurückzukehren. Stolz, die Welt umrundet zu haben.
    Wo war dieser

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