Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
eine weiße Ecke unter dem zu klein gewordenen Hemd hervorlugen sah.
Marys Brief
, fuhr es ihm durch den Kopf. Er nahm ihn in die Hand. Es war ein großer, schwerer Umschlag. Vorne sein Name, hinten ein Wachssiegel. Er brach es auf und nahm den Inhalt heraus: ein Briefbogen und ein weiterer Briefumschlag, ebenfalls versiegelt und an Landon Reed in Plymouth adressiert.
Seth hockte sich auf seine Kiste, legte den Briefbogen und den Brief an Landon Reed in seinen Schoß und kratzte das Siegel vom Papier, bevor er den mit seinem Namen versehenen Umschlagaufzutrennen begann. Es sah zwar merkwürdig aus, aber er hatte eine Seite Papier gewonnen. Zufrieden lächelte er. Dann nahm er das einzelne Blatt aus seinem Schoß und faltete es auseinander. Es war ein Brief, an ihn gerichtet, der mit den Worten
»Lieber Seth«
begann. Dicht beschrieben war er, sodass hier kein Platz für seine eigenen Notizen blieb, doch die Rückseite war leer. Innerlich jubilierte Seth. Drei Seiten, er hatte drei Seiten Papier gewonnen: sowohl die Vorder- und die Rückseite des Umschlags als auch die Rückseite des Briefes.
Kurz nahm er das Schreiben an Landon Reed in die Höhe und tastete es ab. Hierin befanden sich mindestens zwei Blätter, so sehr wölbte sich der Umschlag. Kopfschüttelnd stand er auf, legte ihn unangerührt in die Kiste und griff nach Feder und Tintenfass. Wieder setzte er sich auf seine Seekiste, kreuzte die Beine und strich das Papier glatt.
Was soll ich notieren?
, überlegte er und fühlte sich feierlich, als die Tinte feucht auf der Feder glänzte.
Wir haben vor wenigen Tagen das Kap der guten Hoffnung verlassen. Die See ist ruhig.
Das war es noch nicht, nein, das konnte er besser formulieren. Doch das Ziehen in seinem Bauch lenkte ihn ab. Jedes Mal, wenn er an zu Hause dachte, wurde ihm flau. Es gab kein Zuhause mehr, und er wusste nicht, was geschehen würde, wenn sie in England anlegten. Würde er in ein Waisenheim kommen? Würde die Royal Navy oder das Navy Board Verwendung für ihn haben? Beide Gedanken verstärkten den Druck im Bauch. Tinte tropfte von der Feder auf das Holz der Kiste, mit den Fingern wischte er sie in die Breite. Das Papier war immer noch weiß und unberührt. Nur an einigen Stellen, an denen Marys Tinte sich durchgedrückt hatte, waren schwarze Punkte zu erkennen, die sich verteilten wie Fliegendreck.
Was hat sie wohl geschrieben? Egal
, dachte er im selben Moment.
Es ist mir gleich, was sie geschrieben hat!
Der tintenverschmierte Daumen und Zeigefinger fuhren vor, packten den Brief und drehten ihn um.
Lieber Seth,
ein Brief wird mir nicht die Möglichkeit geben, Dir ausführlich zu erläutern, was mich zu der Täuschung, die ich euch zugemutet habe, getrieben hat. Vielleicht verstehst Du es ein wenig, wenn ich es mit der Schreiberei vergleiche. Wie ich weiß, magst Du das Schreiben. Versuche Dir vorzustellen, man würde Dir das Schreiben verbieten. Für immer. Würdest Du nicht auch versuchen, wieder in den Besitz einer Feder und ein wenig Tinte zu kommen, um die Worte, die durch Deinen Kopf gehen, festzuhalten? So musst Du Dir meine Lage vorstellen. Ich liebe meine Arbeit, und ich durfte sie nicht ausüben. Und so habe ich jeden Preis in Kauf genommen, um mein Ziel zu erreichen. Ich habe mein Ziel erreicht, zumindest für eine Weile, aber ich habe erst, als nichts mehr rückgängig zu machen war, einen Gedanken daran verschwendet, dass ich damit viele Menschen in meinem Umfeld vor den Kopf gestoßen habe. Zu Hause habe ich meine Lieben im Ungewissen zurückgelassen. Auf dem Schiff habe ich die Menschen, die sich blind auf mich verlassen haben, von Anfang an belogen. Ich habe viel Schuld auf mich geladen.
Seth, Du kannst kaum ermessen, wie leid mir all dies tut, aber ich befürchte, dass ich immer wieder so handeln würde. Ich weiß nicht, ob Du meinem Versuch einer Erklärung folgen konntest oder möchtest, aber ich bitte Dich, mir zu erlauben, Dir ein Schreiben mitzugeben. Es ist an Landon Reed gerichtet, der ein Handelskontor in Plymouth betreibt. Da der Brief viele persönliche Gedanken enthält, habe ich ihn versiegelt. Bitte versteh das nicht falsch. Wichtig für Dich ist, dass ich ihn frage, ob er Dich in seinem Kontor zur Lehre aufnehmen kann. Ich habe Deine Leidenschaft für die Schreiberei, aber auch Deine Geduld, Deine Ausdauer, Deine Genauigkeit beschrieben und betont, dass Du ein sehr aufgeweckter junger Mann bist. Ich nehme an, die Navy wird nach Deiner Heimkehr für
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