Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Haar zu ölen und mit einem Stab im Nacken zusammenzustecken, den beigen, bodenlangen Rock anzulegen und das Schultertuch über das verbliebene, von ihr geschonte Hemd zu werfen. Rock und Tuch hatte sie, nachdem die Reiseausstattung zerschlissen war, in Anlehnung an die englische Mode aus dem Stoff der Tahitianer für diesen Augenblick, ihre Abfahrt, selbst gefertigt.
Noch einmal blickte sie zum Horizont.
Ihr blieb genug Zeit, einen kultivierten Eindruck zu erwecken.
Als ihr Fuß die Planke berührte, wich die Besatzung der
Challenge
zurück. Schweigend rückte die Meute zusammen und nahm Mary von Kopf bis Fuß in Augenschein. Gut fühlte sie sich, und ihr Auftreten war ruhig und sicher. Ihr Blick streifte die Männer, und sie senkten die Köpfe oder sahen auf das Wasser hinaus.
Die alten Geschichten, dass Frauen an Bord das Verderben mit sich bringen, sind lebendig und sicher im Vorfeld tüchtig beschworen worden,
dachte Mary und musterte Kapitän Fairbanks, der ihr den Arm reichte.
Ohne Frage, er ist ein mutiger Mann. Es liegt auf der Hand, dass bei der kleinsten Begebenheit die Mannschaft aufbegehren und mir, der Frau an Bord, die Schuld an allen widrigen Vorkommnissen
zuweisen wird. Flaute, raue See, verdorbenes Essen – alles werden sie mir zum Vorwurf machen. Und Fairbanks wird die Verantwortung tragen und seine Männer zwingen müssen, sich dem Auftrag, mich nach England zu bringen, zu beugen.
Die Seesoldaten trugen ihre Musketen geschultert. Sicherlich sollten sie die Mannschaft in Schach halten, bis Mary an Bord gekommen und ihr Gepäck verladen worden war.
Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken herab.
Es war still, zu still.
Kapitän Fairbanks führte sie auf das Achterdeck, und kaum waren sie außer Hörweite der Mannschaft, sagte er: »Ihr werdet verstehen, dass ich darum bitten muss, dass Ihr Euch in erster Linie in der Kajüte und in der Offiziersmesse aufhaltet. Das Deck betretet Ihr vorerst nicht ohne Begleitung eines Seesoldaten. Und wann diese Vorsichtsmaßnahme endet, das werde ich entscheiden.«
Mary nickte. Sie schaute aus dem Fenster. Die Palmen winkten im Wind.
Plymouth, 7. September 1787
Leise läuteten die Türglocken, als Landon das Kontor betrat. Kurz nickend eilte er am Pult des Vorstehers vorbei, der den Kopf hob und ihm einen Brief entgegenhielt: »Entschuldigt, Mr. Reed, das hier wurde für Euch abgegeben.«
Er warf einen Blick auf die Schrift und verzögerte den Schritt. Die Bögen und die Linienführung, sie erschienen ihm vertraut. Er wendete das Kuvert. »Mary Linley« stand dort als Absender.
»Wer hat diesen Brief abgegeben?«, rief er durch das Kontor und hastete zum Pult des Vorstehers zurück.
»Ein Junge. Er wollte Euch sprechen, aber ich habe ihm erklärt, dass er wiederkommen kann, und wenn Ihr ihn dann zu sprechen wünscht …«
»Wann war der Junge da?«
»Das ist noch nicht lange her. Er hat noch eine Weile vor dem Kontor herumgelungert. Knapp fünf Fuß hoch, blondes Haar, Sommersprossen.«
Landon riss die Tür auf und sah die Straße hinab. Reisedroschken, Postkutschen, fliegende Händler und Passanten drängten sich hier aneinander vorbei. Dennoch erblickte er sofort einen Blondschopf, der nicht weit entfernt auf einer Mauer saß, die Beine baumeln ließ und dem Treiben zusah. Zwei Frauen hatten seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, nur kurz schaute er zum Kontor herüber. Als ihre Blicke sich trafen, riss er die Augen auf,sprang von der Mauer und zog seine Jacke zurecht. Landon winkte ihm zu.
»Landon Reed«, sagte er, als der Junge vor ihm stand.
»Seth Bennetter.« Sein Oberkörper deutete eine Verbeugung an. Wortlos drehte Landon sich um und betrat das Kontor.
Er hatte Tee servieren lassen und den Brief ungeöffnet auf den Tisch vor sich gelegt. Der Junge saß auf der äußeren Kante des Stuhles vor seinem Tisch und hielt seine Mütze in den Händen. Unentwegt kneteten die Finger den Stoff. Der Blick der auffällig blauen Augen huschte unruhig durch den Raum, zu ihm zurück, dann wieder auf den Brief, um erneut ins Zimmer zu entschwinden.
»Woher hast du diesen Brief?«
Der Junge zuckte zusammen.
»Den habe ich von Miss Linley. Wir waren gemeinsam auf der
Sailing Queen
.«
Auch wenn William Middleton von nichts anderem gesprochen hatte, auch wenn Landon unzählige Male den Gedanken durchgespielt und ihn irgendwann für möglich gehalten hatte, traf ihn die schlichte Aussage wie ein Faustschlag. Er räusperte sich. »So,
Weitere Kostenlose Bücher