Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
zerfaserten, über ihn spannte. Die Kinder spielten, und der Wind zerriss ihr Gelächter. Trotz der Müdigkeit kreisten die Gedanken in seinem Kopf und ließen ihn keine Ruhe finden.
Der Abschied von Mary lag bald drei Monde zurück und setzte ihm noch immer zu. So wie ihm jeder Abschied zusetzte. Während die meisten Bewohner der Insel es begrüßten, wieder unter sich zu sein, blieb bei ihm ein schaler Nachgeschmack zurück. Auch wenn die Fremden längst außer Sichtweite waren, war immer etwas von ihnen zurückgeblieben. Die gewölbten Leiber der Frauen, denen Kinder mit hellen Augen entschlüpften, legten nach jeder Abfahrt beredtes Zeugnis davon ab.
Auch nach diesem Besuch war erneut Streit um die Mitbringsel entstanden. Erst gestern war Tupaia mit einem Schuh nach Hause gekommen, wie ihn die Fremden trugen. Immer wieder hatte der Junge seinen Fuß hineingeschoben und versucht, damit zu laufen. Als seine Knie vom Hinfallen blutig geschlagen waren, hatte Revanui ihm den Schuh weggenommen. Löcherig war er gewesen und hatte so erbärmlich gestunken, dass sie ihn wutentbrannt ins Feuer geworfen hatte. Tupaia hatte geschrien, seine kleinen Hände zu Fäusten geballt und versucht, seine Mutter zu schlagen. Owahiri wurde flau, als er das Bild vor seinem geistigen Auge noch einmal sah. Die Wut in den Augen des Kleinen hatte ihn zutiefst erschüttert.
Inzwischen sprach nicht nur Revanui davon, dass die Fremden ihr Untergang werden würden.
Ein unvorstellbarer Gedanke.
Inzwischen hatte auch er bemerkt, dass zunehmende Missgunst die Männer und Frauen seines Volkes umtrieb. Sicherlich würden die Gemüter sich beruhigen, die Mitbringsel würden irgendwann ihren Reiz verlieren und im Buschwerk landen. Auch die Kinder mit den hellen Augen würden heranwachsen wie alle anderen Kinder der Insel auch.
Ihn beunruhigte vielmehr der Gedanke daran, dass Mary und Carl Spuren hinterlassen hatten. Sichtbare Spuren wie ein mit Korallen bedecktes Steingrab und eine halb verfallene Hütte am Strand, die inzwischen von den Kindern zum Spielen genutzt wurde. Doch entscheidend waren die unsichtbaren Spuren, die sie in ihm zurückgelassen hatten. Die Leere, die er fühlte, wenn er an die kommenden Tage dachte, machte ihn ruhelos. Keine Fragen mehr, keine Wanderungen durch unwegsame Lichtungen, keine Bootstouren auf die Inseln der Umgebung. Kein Austausch mehr über die unterschiedlichen Welten, aus denen sie kamen, über den Bootsbau, die Behandlung von Krankheiten und die Zubereitung von Speisen. Nirgends mehr würde er auf Mary treffen, die, insMalen oder Schreiben vertieft, sein Kommen nicht bemerkte und aufschrak, sobald er neben ihr Platz nahm. Jeder Tag war anders, jeder Tag war anregend gewesen, und jetzt blieb ihm nichts als der Alltag.
Auch wenn die anderen Zeit und Ruhe brauchten, wieder in ihren Alltag zu finden, und die Götter beschworen, es mögen keine Schiffe mehr über das Meer gefahren kommen, die ihnen Krankheiten und Streit brachten, er würde warten. Darauf warten, dass erneut ein Schiff erschien, und er war sich sicher, dass eines auftauchen würde. Und wieder würden fremde Menschen die Insel betreten und seine Gedankenwelt bereichern.
Sehnsüchtig fragte Owahiri sich, was die eckigen Weißgesichter dann wieder an Anregung und Abwechslung mit sich bringen würden. Vielleicht, aber das galt es mit Revanui und Tupaia abzustimmen, würde auch er sich einmal auf einem der großen Schiffe nach England mitnehmen lassen.
Plymouth, 10. September 1787
Sie schritten durch den Garten. Nur im Schatten ließ sich die ungewöhnliche Hitze ertragen, die der Herbst in diesem Jahr bereithielt. Selbst den Vögeln schien es zu heiß, ihre Lieder zu singen, eine brütende Stille lag über allem.
Mrs. Fincher trug trotz der ungewöhnlichen Temperaturen ein hochgeschlossenes, dunkles Damastkleid, das mit feinen Ornamenten durchwirkt war. Die Jahreszeit hatte ihren Teint rosiger gemacht, der sanfte Farbton auf den Wangen nahm jedoch nicht die Strenge von ihren Zügen.
»Was führt Euch nach so langer Zeit zu mir?«, fragte sie, während sie stehen blieb und eine vertrocknete Blüte aus einem Rosenbusch zupfte.
Kurz sah Landon sich um. Rosen, nichts als Rosenbüsche. Akkurat gestutzt und eintönig nach Farben gepflanzt. Er räusperte sich. »Mrs. Fincher, ich habe um ein Gespräch gebeten, um Euch dies hier zu übergeben.« Mit kalten Fingern zog er das Kuvert aus seinem Mantel.
An ihrem Blick sah er, dass sie die
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