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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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für seinen Vater und sich zu verdienen. Der junge Mann war sehr ernst für sein Alter, aber wenn er die Kleine sah, dann lächelte er manchmal.
    Und auch James Cook reiste eines Tages an. Er war groß und hager, müsst Ihr wissen. Ständig hielt er den Kopf ein wenig vorgebeugt, als würde er jeden Moment eine Kajüte mit niedriger Deckenhöhe betreten. Mir ging es wie Mary. Neugierig beobachteten wir ihn und wurden nicht schlau aus ihm. Wir rätselten, wie er es schaffte, eine ganze Mannschaft zu befehligen, wo er doch nur selten und leise sprach.
    So ging es hier über die Jahre zu: Mathematiker trafen auf Botaniker, Kapitäne auf Wundärzte, Geologen auf Kunstmaler. Ein Kommen und Gehen der Gelehrten. Und nie hat sich jemand daran gestört, dass die Tochter von Francis Linley an den Gesprächsrunden mit glänzendem Blick teilnahm. Dass sie schweigend dabeisaß und begierig das geballte Wissen in sich aufsog. Versteht Ihr? Nachts saß sie in ihrem Bettchen und schrieb sich auf, was sie gehört hatte. Sie füllte Heft um Heft damit. Dieses Mädchen wurde von klein auf mit den Gedanken dieser Gelehrten   … ja, sie wurde regelrecht damit vollgestopft.«
    Landon nickte. Er schluckte und spürte seinen Adamsapfel springen.
Sie hat mir ihr Leben gezeigt. Die Zeichnungen, die Pflanzen und die Schmetterlinge. Ich habe sie nicht erkannt, ich habe all das für eine versponnene Leidenschaft gehalten und dabei nur gehofft, die Wärme ihrer Stimme würde mir gelten.
    Der Alte stieß nochmals mit dem Schürhaken ins Feuer. Abrupt drehte er sich um und schaute Landon prüfend an. »Daher kommt ihre Begeisterung für die Wissenschaft. Aus dem Mädchen konnte hier nichts anderes werden. Deshalb habe ich von Mr.   Linleys Erbe gesprochen.«
    Nass und kalt klebte Landon das Hemd in den Achselhöhlen. Er musste etwas sagen, um William Middleton die Angst zu nehmen, er könnte an Mary zweifeln. »Ja, ich kann Euch folgen. Aber sagt mir, was, denkt Ihr, hat sie vor?« Gern hätte er noch einmal angesetzt und dabei weniger spröde geklungen, doch der Alte schien beruhigt.
    Er legte den Schürhaken beiseite und setzte sich wieder an den Tisch. Mit den Fingern strich er Falten aus dem Überwurf. »Ich befürchte«, sagte er so leise, dass Landon sich vorbeugen musste, »ich befürchte, dass es ihr gelungen ist, an Bord des Forschungsschiffes zu kommen, das im Hafen liegt.«
    »Aber man wird keine Frau an Bord nehmen, das ist strengstens untersagt«, entgegnete Landon vorsichtig. Er wollte William Middleton nicht zu nahetreten, aber das musste ihm doch klar sein.
    Der alte Mann sah mit einem Schlag eingefallen aus und schloss die Augen. »Bitte erschreckt nicht, denn der Gedanke mag abwegig erscheinen. Aber letzthin ließ Mary sich von mir beim Navy Board absetzen. Dort bereiten sich auch dieses Mal die Wissenschaftler auf ihre nächste Expedition vor.« Er flüsterte, als würde die gesenkte Stimme die Ungeheuerlichkeit seiner Vermutung schmälern. »Eine Mappe hatte sie geschnürt und wollte sich vorstellen. Als Mitarbeiter der Wissenschaftler. Versteht Ihr?«
    Landon schüttelte den Kopf. Keine Expedition der Welt würde eine Frau verpflichten. Und Mary, sie hatte ihren Vater genau durch solch eine Reise verloren, sie wusste um die Risiken. Nur wer zu dumm war, sich einen Platz im Gefängnis zu sichern, ging an Bord eines Schiffes. Dort war es wie im Gefängnis, nur hatte man noch die Möglichkeit, dabei zu ertrinken.
    William Middleton schien das Schweigen zu verstehen, seinen Zweifel zu spüren. »Sie wägt nicht ab«, sagte er sanft. »Nie. Sie handelt. Ohne lange nachzudenken. Wenn sie einem Schmetterling nachjagt, sieht sie nicht den Abgrund, auf den sie erhobenen Hauptes zustürmt.«
    Ein Knacken im Feuer ließ Landon zum Kamin hinüberschauen. Worauf hatte er sich eingelassen? Eine verstockte junge Dame heimzuholen, die das Elternhaus aus Wut verlassen hatte und bei einer Verwandten oder Freundin Zuflucht suchte, das war eine Sache. Worüber jedoch sprachen sie hier? Über eine Frau, die auf einem Schiff angeheuert haben sollte?
    »Was denkt Ihr, Mr.   Reed? Haltet Ihr es für möglich, dass sie an Bord des Schiffes ist?« Die Stimme des Alten zerfiel.
    Nein
, dachte Landon,
ich halte es nicht für sonderlich wahrscheinlich, aber wir müssen jede Möglichkeit in Erwägung ziehen.

Plymouth, 19.   Juli 1785
     
    Als Mary im Morgengrauen die Kombüse betrat, griff Henry augenblicklich nach einem Leinensack. »Morgen, Marc.

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