Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
glitten, hinab. Als er auf die Decksplanken sprang, schlotterten seine Beine. »Was ist, wenn uns die Wache hört?« Er flüsterte, und seine Zähne schlugen dabei noch immer aufeinander.
»Alles in Ordnung. Ich habe gewartet, bis er eingenickt ist. Verschwinde in das Kabelgatt. Schlafe ein wenig.«
Zögernd blieb Seth stehen. Der Bruder hatte schon den Nachmittag im Krähennest verbracht, er musste müde sein. Als hätte er seine Gedanken erahnt, zischte Nat: »Nun mach schon. Ich schaff das. Hau ab. Schnell!«
Sofort verschwand Seth im Niedergang. Leise atmend blieb er stehen. Ins Kabelgatt solle er gehen, hatte Nat gesagt. Aber was war das, das Kabelgatt? Ins Mannschaftsdeck wollte er nicht zurück. Die Männer ängstigten ihn. Und wie sollte er jetzt seine Kiste öffnen, um die Hängematte herauszunehmen, ohne jemanden dabei zu wecken?
Die Schafe,
dachte er.
Dort gehe ich hin, dort ist es schön. Bei ihnen ist es warm.
Am Tage hatte er die Tiere gesehen. Wie sie breitbeinig und blökend im Stroh gestanden und versucht hatten, das Schwanken des Bootes auszugleichen.
Unter Deck war es stockfinster. Er lauschte. Langsam tastete er sich an den Kisten und Säcken entlang und schob Fuß um Fuß voran, um nicht zu stolpern. Wenige Schritte weiter stieß er gegen das hölzerne Gatter und riss sich einen Splitter in die Handfläche.Die Schafe, die ihn witterten, drängten sich als hellgrauer Schatten in der gegenüberliegenden Ecke des Geheges aneinander.
Seth kniete im Stroh nieder und tastete sich mit den Händen voran. Es war ihm gleichgültig, ob er sich in Schafköttel oder in feuchtes Stroh legte. Er wollte schlafen. Als er sich einrollte, berührte er etwas Warmes. Etwas Warmes, Glattes, das sofort verschwand. Er fuhr hoch.
»Wer ist da?«, flüsterte er in die Dunkelheit.
»Ich bin’s. Marc.«
Marc? Welcher Marc?
Seth hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, so laut wie das Meer, wenn ein Sturm das Wasser aufwühlte.
Ach, der Kleine,
versuchte er sich zu beruhigen.
Der feine Pinkel
. Lauernd fragte er: »Was machst du hier?«
»Ich will hier schlafen. Die Männer schnarchen so laut.«
Seth seufzte erleichtert auf. »Ja, furchtbar, oder? Weißt du, der Kerl neben mir furzt immer. Da konnte ich auch nicht schlafen.«
Marc lachte auf. Ein helles Lachen, das freundlich klang. Nicht so derb wie das der anderen Männer.
»Ich verspreche dir, dass ich meine Darmwinde im Zaum halte.«
»Verrätst du mich auch nicht?« Vor seinen Augen sah Seth den Vater und wie der in Rage geraten würde, wenn er mitbekäme, dass Nat seinen Dienst übernommen hatte.
»Um Himmels willen. Dann würde ich ja auch meinen geheimen Schlafplatz verraten.«
»Stimmt.« Er nahm die Mütze ab und ließ den Kopf auf die Arme sinken. Das knisternde Geräusch der trockenen Halme erinnerte ihn an den Stall zu Hause. »Wir hatten auch Schafe. Und manchmal haben mein Bruder und ich im Stall übernachtet. Meine Mutter kam uns morgens wecken. Sie hat uns dann gleich in die Regentonne gesteckt, weil wir so gestunken haben.«
»Das klingt schön. Wenn du heimkehrst, könnt ihr das bestimmt wieder machen. Im Stall schlafen.«
Vielleicht ist Marc gar nicht so ein feiner Pinkel. Eigentlich ist er ja ganz nett.
»Ja, das war schön. Aber wenn wir zurückkommen, will der Vater meinen Bruder und mich auf die Marineschule schicken. Die Schafe sind weg. Meine Mutter ist nämlich tot. Und jetzt müssen wir mit meinem Vater auf das Schiff.«
Kurz spürte Seth das kalte Wasser der Regentonne und das raue Tuch, mit dem ihn die Mutter trockenrieb. Und ihre warmen Hände, die ihm einen Klaps gaben, dass er zum Haus hinüberlaufen sollte. Er schluckte. »Hast du noch eine Mutter?«
»Nein, sie ist bei meiner Geburt gestorben.«
»Dann haben wir was gemeinsam. Wir haben keine Mütter mehr, und wir schlafen beide gern im Stroh.«
Wieder lachte Marc auf. »Das ist doch schon ein Anfang. Aber jetzt mach die Augen zu. Wenn wir morgen beide übermüdet sind, dann ist das keine gute Gemeinsamkeit.«
»Ja, schlaf gut.«
Jetzt kenne ich auf dem Schiff schon meinen Vater, Nat, den Schiffsjungen Dan und den kleinen Marc,
dachte er und schlief ein.
Plymouth, 20. Juli 1785
»Marc?«
Mary blickte in den Kessel und rührte das Blasen schlagende Porridge.
»Marc Middleton?«
Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt: Marc! Marc! Marc! Sie hatte zu reagieren, wenn dieser Name fiel. Er musste ihr ins Blut übergehen, selbst aus dem Schlaf musste
Weitere Kostenlose Bücher