Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
sie auffahren, wenn jemand sie so rief. Jede Verzögerung würde ihr als Tagträumerei ausgelegt werden. Sie durfte keinen Verdruss auf sich ziehen, zu funktionieren hatte sie – immer und sofort.
Vor ihr stand Seth. Am Morgen waren sie aus dem Stroh gekrochen und hatten einander die Halme aus den Kleidern gezogen. Sein blondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, war im Nacken feuchtgeschwitzt gewesen. Die helle Haut, mit Sommersprossen bedeckt, hatte noch von der Wärme des Schlafes geglüht. Wortlos waren sie auseinandergegangen, um ihr Tagewerk zu beginnen.
»Mr. Myers lässt nach Euch schicken«, sagte der Kleine, und nichts in seiner Haltung deutete darauf hin, dass sie vor Kurzem Rücken an Rücken erwacht waren. Die nassen Hosenbeine in die Knie gekrempelt, trat er barfuß im Wechsel von einem Bein aufs andere.
Wo sind seine Schuhe? Er wird sich verkühlen,
dachte Mary.
Er ist
noch ein Knabe, zu weich für dieses Leben. Wie alt mag er sein? Neun Jahre? Vielleicht zehn?
Sein Blick hing an ihr.
Was hatte er gesagt?
Mr. Myers ließ nach ihr schicken?
Es war, als würde aus ihr Luft entweichen. Der Druck ließ nach, und sie fühlte sich leicht. Die Wissenschaftler waren an Bord gekommen.
»Lass den Topf stehen. Die sollen mir einen der Schiffsjungen zuteilen«, sagte Henry, ohne sich umzudrehen.
Gern hätte sie noch ein Wort an ihn gerichtet, einen kleinen Dank vielleicht, doch Seth packte sie am Arm und zog sie mit sich.
Aus der Unterwelt hinausgespuckt fühlte sie sich, als sie den Kopf aus der Luke hob. Am liebsten wäre sie in der Sonne stehengeblieben und hätte sich an Licht und Wärme betrunken. Wie konnte es unter Deck nur fortwährend so kalt und dunkel sein?
Die Männer zogen an Eisenketten gebundene flache Steine über die Planken und schrubbten mit Sand das Holz. Am Bug, wo das Holz schon blank gerieben war, wurden gerade die Sandreste weggespült. Eimer um Eimer wurde mit Wasser gefüllt und an einer Leine an Bord gezogen. Auch Seths Bruder war unter ihnen. Sein Gesicht war gerötet, und der Schweiß lief ihm die Stirn herab. In den Wanten sprangen die Matrosen. Sehnige Männer, die weder Höhe noch Wind fürchteten, Männer, deren Muskeln bei jeder Bewegung hervortraten. An den Masten knatterten die weißen Segel, irgendwer sang. Die Arbeit, das Meer, der Wind, alles war schön und friedlich.
Seth führte Mary über Deck und zeigte auf seinen Vater, der abseits stand, mit zwei Männern ins Gespräch vertieft. Der stattlichere der beiden strich sich eine Locke aus der Stirn. Schwarzes Haar, das im Sonnenlicht glänzte.
Ihr stockte das Blut. Landon. Er war hier, an Bord! Er suchte sie. Sie spürte ihr Herz einem Hammer gleich an ihre Rippenkrachen. William musste sich eine Erklärung zusammengereimt haben.
Wie konnte ich so töricht sein, mich von ihm beim Navy Board absetzen zu lassen? Sie wissen jetzt, dass ich hier bin.
Ihre Hände zitterten, als sie die Mütze tiefer ins Gesicht zog und den Schritt beschleunigte.
Seth verfiel in einen Laufschritt und flüsterte: »Ich glaub, die suchen einen Matrosen. Ich weiß nicht, was er angestellt hat, aber vielleicht ist ein Dieb unter uns. Oder sogar ein Mörder.« Seine Augen leuchteten.
Kurz war sie versucht, den Jungen wegzuschicken, um sich seines Geplappers zu entledigen. Was war, wenn man sie entdeckte, bevor das Schiff ablegte? Wenn Landon sie an der Mannschaft, an Kapitän Taylor, an Kyle Bennetter und an Sir Belham vorbei abführte?
Endlich erreichten sie das Achterdeck. Mary packte Seths Schulter und schob ihn hastig durch die niedrige Tür, hinein in den Kajütengang. Sie hörte sich aufatmen, doch in ihrem Kopf irrlichterten die Gedanken. Einen Matrosen suchten sie, hatte der Junge gesagt. Solange man nur im Mannschaftsdeck Ausschau nach ihr hielt, hatte sie eine Chance. Oder hatte Landon nach einer Frau gefragt? Einer Frau im Gewand eines Mannes? Selbst wenn sie an Bord aus Plymouth herauskäme, würde die verderbte Mannschaft dann nicht genauer hinschauen? Gierig, ein Weib zu entdecken, das ihnen ausgeliefert war?
Der Junge ließ die Arme hängen, doch er wandte den Kopf und sah erst auf ihre Hand, die seine Schulter umklammert hielt, dann hinauf in ihr Gesicht. Sofort ließ sie ihn los, und Seth geriet ins Stolpern. Er wäre gefallen, wenn nicht Franklin Myers nach ihm gegriffen hätte. Waren ihre Augen blind geworden? Sie hatte Franklin nicht bemerkt.
Einen Moment starrten sie einander an, dann fragte er:
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