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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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verschwanden.
    Mary knickten die Knie ein, haltsuchend lehnte sie sich gegen den Hauptmast.
    »Doc Havenport hat darum gebeten, dass wir ein Auge auf die Seekranken haben, Sir«, sagte Nat.
    »Aber nicht auf den, auf den habe ich ein Auge.« Bennetter deutete seinem Sohn mit einer Handbewegung an, er solle verschwinden.
    Nat, bleib hier. Lass uns nicht alleine. Lass mich nicht allein. Du weißt, wie er ist,
flehte sie in Gedanken
,
doch der Rücken des Jungen verschwand vor Marys Augen im Niedergang.
    Der Schiffsjunge Dan eilte an ihnen vorbei. Konzentriert schaute er auf seine Hände, die er wie eine Muschel geschlossen hielt.
    »Was hast du da?« fuhr Bennetter ihn an.
    Dankbar für diesen kurzen Moment der Ablenkung atmete Mary auf.
    Dan jedoch erstarrte. »Es ist ein Wunder! Eine Schwalbe, Sir. Sie ist von einer Welle an Bord gespült worden.«
    Eine gewöhnliche Hausschwalbe
, dachte Mary.
Das ist kein Wunder, Junge. Die Vögel folgen den Schiffen. Und je weiter sie sich dabei vom Lande entfernen, desto eher halten sie sich an die Masten, sind sie doch der einzig feste Bezugspunkt im unruhigen Meer.
    »Gib her«, sagte Bennetter.
    »Sie ist sehr schwach. Aber vielleicht kann Mr.   Myers   …«, stotterte der Junge und öffnete die Hände.
    Verirrt hast du dich, kleiner Vogel. Wir haben anscheinend etwas gemeinsam: Wir haben uns an einen Ort verirrt, an dem wir nichts verloren haben.
    Schwarz glänzten die Augen des Vogels. Er begann mit den nassen Flügeln zu schlagen und hieb den Schnabel in Dans Finger. Der Junge reagierte nicht.
    Bennetter packte den Vogel und hielt ihn wie einen nassen Lappen in seiner Rechten.
    Dan trottete davon, sich mehrfach umdrehend.
    Bennetter fixierte Mary, derweil der Kopf des Vogels und ein zappelndes Beinchen aus seiner Hand herausschauten. »Entschuldigt die kurze Störung«, sagte er freundlich, »doch ich wollte Euch noch erzählen, dass mir der Kapitän persönlich heute einen Einlauf verpasst hat. Sir Belham hat sich beschwert, dass ich Euch ins Mannschaftsdeck gesteckt habe. Ich kann Euch versichern, dass wir miteinander noch nicht fertig sind, mein Freund.« Er lachte auf und stieg die Stufen zum Achterdeck hinauf.
    Die Katze kam ihm entgegen. Bennetter ging in die Knie und lockte sie mit einem zirpenden Geräusch. Dann öffnete er die Hand und ließ den Vogel auf die Planken fallen. Kurz schnupperte die Katze, einen Augenblick zitterten ihre Barthaare, dann schlugen die Zähne in das schwarze Gefieder.

Plymouth, 28.   Juli 1785
     
    Kein Wind wollte heute die Luft teilen, dick und nach Fisch stinkend machte sie das Atmen schwer.
Den Geruch werde ich heute in der Kleidung mit nach Hause nehmen,
dachte Landon und rieb sich über die Augen. Müde blickte er hinüber zu seinem Schiff, dessen Ladung endlich gelöscht wurde. Vier Stunden hatte er im Hafen verbracht, um Schwierigkeiten zu lösen, die es wegen der Frachtbriefe gegeben hatte. Vier Stunden nichts als Gestank, Gezänk und Lärm.
    An seinen Schreibtisch sehnte er sich zurück, in die Ruhe seines Arbeitszimmers. Er beschloss, ins Kontor zu fahren, und dort erst eine Tasse des Bing-Tees zu genießen, den er sich aus China hatte mitbringen lassen. Für einen Moment glaubte er, den Duft des Tees zu riechen, sah die Tasse neben den Korrespondenzen auf seinem Schreibtisch stehen und spürte die Schreibfeder in seiner Hand über das Papier gleiten.
    Er hielt inne.
    Ein Stimmengewirr schwoll an.
    Menschen eilten an das letzte Ende der Kaimauer, ein Mann winkte mit den Armen und zeigte immer wieder hinaus aufs Wasser.
Was kümmert es mich,
fragte er sich
,
als eine Frau mit gerafften Röcken schreiend an ihm vorbeilief und in die nächstbeste Gasse verschwand.
Nein, hier ist mehr als ein außergewöhnlich großer Fisch ins Netz gegangen, hier ist mehr als ein von Treibholz gerissenes
Fischernetz zu beklagen
. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wie von Fäden gezogen, drehte er sich um und verfiel mit den anderen in einen Laufschritt, den Rufern entgegen.
    »Seht, dort hinten, da treibt sie«, hörte er den Mann, der ohne Unterlass mit den Armen umherwinkte, rufen.
    Landon blieb stehen und schirmte seine Augen gegen das Licht ab. Ein weißer Fleck, der auf den Wellen tanzte. Ein rund gewölbter Rücken, der aus dem Wasser ragte.
    »Wer ist es?«, vernahm er eine andere Stimme.
    »Man weiß es noch nicht, aber es ist wohl eine Frau.«
    Ein kleines Boot mit zwei Männern war auf dem Weg zur dahintreibenden Leiche. Der

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