Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
aufquoll, jetzt verreckten auch die Viecher an Bord. Sie stanken dabei nicht minder.
Es musste eine Ratte gewesen sein, die unter dem Beiboot verendet war. Eine Ratte, deren Gestank nun im Holz festhing. Ihr Schwanz war noch auszumachen, der Körper glich jedoch inzwischen einer breiigen Masse.
Ein Würgen überkam Seth, und er schaute schnell auf seine Hand, die den Scheuerstein über die Decksplanken schob. Er spürte, dass der Schorf, der seine Knie überzog, wieder aufweichte. Mit jedem Voranschieben der Knie drückte sich der Stoff der Hose tiefer in die Kruste aus Blut, Eiter und Dreckswasser. Der immer gleiche Ablauf, bis er aufstehen und den Stoff mit einem Ruck aus den faustgroßen Wunden ziehen und aufkrempeln konnte. Schon jetzt freute er sich darauf, den aufgeweichten Schorf mit den Fingern abzukratzen.
Die Segel hingen schlaff an den Masten. Ein weiterer Tag widerlicher Windstille würde sich an den nächsten reihen. Wiederbrannte die Sonne aufs Deck und machte die Männer träge. Seth hörte, dass vom Ausguck eine Sandbank gemeldet wurde. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Senkbleie ausgeworfen wurden, um die Tiefe des Wassers zu bestimmen.
Der moderige Geruch der Ratte schob sich wieder in seine Nase.
Denk an fliegende Fische. Denk daran, wie sie über die Schaumkronen springen
. Vor seinen Augen tauchten die Fischleiber auf. In geraden und geschwungenen Linien flogen sie über das Wasser, und wenn sie die Spitze einer Welle im Fluge trafen, verschwanden sie und schossen kurz darauf aus der Schaumkrone wieder empor. Der Gedanke machte die Arbeit nicht leichter. Er veränderte die Hitze nicht und lenkte nicht von den schmerzenden Knien ab. Und: Die Ratte war immer noch da. Immer noch lag sie unter dem Beiboot. Seth hatte keine Wahl. Er schob die Hand vor und zog am Schwanz, der sich kalt und schmierig anfühlte. Inzwischen wurden die Senkbleie wieder eingeholt, irgendwer rief etwas von fünfzig Faden Tiefe.
Denk an was anderes. Vielleicht laufen wir ja auf eine Sandbank auf. Das wäre ein Abenteuer! Wir müssten Wasser pumpen und Ballast abwerfen. Und das Leck, ich würde es stopfen, weil kein anderer an die Stelle herankäme. Da würde niemand nach einer Ratte fragen.
Der Knall war dumpf und laut. Seth schlug mit dem Kopf an den Rumpf des Beibootes und spürte das Zittern, das den Schiffsleib durchlief. Er ließ sich bäuchlings auf das nasse Holz fallen und sah nun die Ratte direkt vor sich liegen. Männerstimmen brüllten durcheinander, jemand lief an ihm vorbei. Sofort sprang Seth auf.
Lieber Gott, hilf mir. Ich habe das nicht so gemeint. Ich wollte nicht, dass wir auf eine Sandbank auflaufen. Ich räume die Ratte weg, wirklich,
flehte er und hob den Kopf gen Himmel.
Was ist, wenn wir ertrinken?
Rasch warf er einen Blick aufs Wasser hinaus. Die Sandbank, wo war sie? Er suchte weiß schimmerndes Wasser, das einlud, über Bord zu springen, weil man meinte, es sei nur knöcheltief und man könne festen Grund unter den Füßen spüren.Er sah nichts dergleichen. Das Schiff lag in schwarzblauem Wasser.
Dan riss Seth an der Schulter und zeigte vor zum Fockmast. »Komm schon, du Hosenscheißer. Es ist die Bierwürze.«
»Was? Bier-was?«
»Die Bier-w-ü-r-z-e, du Idiot. Ein Fass mit eingekochter Bierwürze ist vergoren und explodiert. Die Fässer wurden zum Kühlen an Deck gebracht.«
Erleichtert atmete Seth auf.
Ein Fass ist explodiert. Danke, lieber Gott, danke, dass du mich erhört hast.
Im Laufen entdeckte er Segelmacher-John, der auf den Planken saß und den Hauptmast umschlungen hielt. »Das haben wir jetzt davon, dass wir ohne Begleitschiff reisen. Wir laden die Piraten ja ein, uns zu überfallen«, brüllte er.
Seth trat hinter ihn und schaute auf das verfilzte Haar des Hinterkopfes, das vor ihm auf und ab wippte.
»Hau ab, Kleiner. Solange du noch kannst.«
Für einen Moment überlegte Seth, wie dieser Halbblinde das machte: Menschen erkennen, ohne sie zu sehen. Konnte er den Schritt eines jeden heraushören? Roch er, wer vor ihm stand? Vielleicht ging ja auch von ihm ein ganz eigener Gestank aus, den Segelmacher-John wahrnahm. »Es sind keine Piraten«, sagte er sanft. »Eines der Fässer mit der Bierwürze ist in der Sonne explodiert.«
Segelmacher-John ließ den Hauptmast los und drehte sich zu Seth um. Das rechte Auge hatte keine wirkliche Farbe mehr, grau getrübt starrte es ihn an. Die Pupille war dunkel und weit. Das andere Auge schielte linkerhand an ihm vorbei. »Die
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