Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
aberkein Original dieser Art haben, und das bräuchten wir, um originalgetreu zu arbeiten, werde ich einen zweiten Blütenkopf zeichnen.« Mary zog das Veilchen näher an sich heran und fächerte erneut die hauchdünnen Blütenblätter auseinander.
»Schade ist, dass wir keine Knospe an diesem Veilchen haben, dann könnten wir uns auch damit behelfen. Du siehst, es gibt viele Möglichkeiten, die Zeichnung zu retten.«
Inzwischen stand der Junge so nah bei ihr, dass sie seine Wärme spüren konnte.
Es interessiert ihn, was ich hier mache. Er ist aufmerksam, fast gebannt.
Augenblicklich gab sie ihm den Pinsel mit der grünen Farbe in die Hand.
»Den kannst du säubern, wenn du magst. Drück ihn vorsichtig im Wasser aus, und nimm dir das Tuch. Damit kannst du ihn trocknen. Die Werkzeuge zu pflegen ist bei jeder Arbeit wichtig, auch in der Malerei.«
Während sie die gelbe Farbe anrührte, ließ der Junge behutsam die Spitze des Pinsels über seinen Arm gleiten. Ein grüner Strich entstand. Dann fuhr er mit dem Finger über die Borsten. »Die sind so weich«, sagte er und hielt den Pinsel in den Wassernapf, spülte ihn aus und ergriff das Tuch. Er tupfte ihn derart sorgfältig ab, dass Mary fast aufgelacht und ihm erklärt hätte, er müsse nicht jedes einzelne Haar trocknen.
Eine zweite Blüte entstand, die das Unglück in sich aufnahm und Strich um Strich verschwinden ließ. Als sie den Kopf hob, um ihren Pinsel wieder in die Farbe zu tauchen, fiel ihr Blick aus dem Fenster.
Die Insel war verschwunden.
Sie lächelte und machte aus dem zarten Gelb einen fetten, satten Ton.
»Hast du noch mehr Bilder, die ich sehen darf?«, fragte Seth, als die Tür zur Messe aufgestoßen wurde. Sofort trat der Junge an die Wand zurück, senkte den Kopf und verschränkte wieder die Arme auf dem Rücken.
Carl betrat den Raum, das Haar war nachlässig im Zopf gebunden, und sein Spitzenjabot hatte sich im Ausschnitt der Weste verheddert. Das glänzende Grau der Weste, die mit weißen Stickereien durchwirkt war, betonte die inzwischen sonnengebräunte Haut.
Er hat ein schönes Gesicht. Ein wirklich schönes Gesicht, mit seiner hohen Stirn und den geschwungenen Augenbrauen. Seine Lippen sind voll, fast weich, und sie geben seinem Gesicht einen sinnlichen Ausdruck,
dachte Mary.
Mit wenigen Schritten war er neben ihr. Wo zuvor noch Seth gestanden hatte, schaute nun er ihr über die Schulter. Hatte der Junge einen leicht säuerlichen Dunst verbreitet, eine Mischung aus ungewaschener Kleidung, Fisch und Salzwasser, so roch Carl, als hätte er just seine Kleidung wind- und sonnengetrocknet von der Wäscheleine genommen.
Was machst du dir für Gedanken? Er will deine Arbeiten sehen. Reiß dich zusammen!
»Sehr gut, sehr gut. Das entspricht dem, was mir Franklin myers über deine Fähigkeiten berichtet hat. Ein gewisses Risiko sind wir ja eingegangen, als wir dich so knapp vor der Abreise eingestellt haben, aber ich sehe, du verstehst dich sogar darauf, die Unbill der See auszugleichen.«
Sofort blickte Mary auf ihre Zeichnung. Der zweite Blütenkopf war fertig, nichts ließ mehr den gelben Strich erahnen, der sich über das Blatt gezogen hatte. Was meinte er? Fragend schaute sie zu ihm auf und hörte, dass Seth unentwegt von einem Fuß auf den anderen trat. Leise klatschte die nackte Haut auf den Holzboden.
Carl schmunzelte. »Na, das Sammlungsstück hat nur einen Blütenkopf, warum solltest du dir mehr Arbeit machen als nötig? Zudem sind die Lavierungen der zweiten Blüte, wenn man genau hinschaut, nicht nach links gestrichen wie im Rest der Arbeit. Ihr Auftrag ist zudem kräftiger, fast pastös. Die hellere Blüte ist getrocknet, du hast sie zuerst gezeichnet, und als das Schiff vorhin leewärts abfiel, ist dir die nasse Farbe sicher über das Blatt gelaufen.Der Blütenkopf jedenfalls neigt sich in diese Richtung, und das helle Farbspiel im Blatt, das ebenfalls noch feucht ist, zeigt mir an, dass du auf geschickte Weise ein Problem gelöst hast.«
Mary zog die Augenbrauen in die Höhe. Der Mann verfügte über eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe.
»Ich kenne doch die Tricks der Gewerke, mit denen ich arbeite«, sagte Carl und rieb sich zufrieden die Hände.
Erneut blieb Marys Blick an seinen Lippen hängen. Ihre Hand umklammerte einen der Tiegel mit den Farbpigmenten. Sie nahm den Deckel und schloss ihn.
»Und du bist immer noch hier?« Carl wandte sich zu Seth. »Das ist eine interessante Tätigkeit, das Zeichnen,
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