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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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von Carl entfernt auf Knien über das Deck. Mit der linken Hand presste er den rechten Arm an den Oberkörper.
Der Arm ist ausgerenkt oder gebrochen, jede Bewegung muss höllisch schmerzen,
überlegte Carl und sah, wie der Hüne vor Seth innehielt. Behutsam legte Toni den rechten Arm auf seinem Oberschenkel ab, dann fuhr die linke Hand vor. Er zog am blutdurchtränkten Stoff der Hose des Jungen, dann presste er die Handfläche auf die Wunde.
    Seth schrie auf, doch der Druck stoppte die massive Blutung.
    Carl machte es Toni nach und ging auf die Knie. Er fühlte, als er die Tasche öffnete und die Schere ergriff, dass die Flüssigkeit durch den Stoff seiner Strümpfe und Hose drang. Er nickte dem Zimmermann zu, die Wunde weiter unter Druck zu halten, und begann, den Stoff des Hosenbeines aufzuschneiden.
    Carl legte die Schere aus der Hand und nahm das Nähzeug aus seiner Tasche. Kurz sah er sich um. Ob es die richtige Entscheidung war, den Jungen zuerst zu verarzten? Mit pumpender Bewegung war das Blut aus seinem Bein geschossen, innerhalb weniger Minuten wäre er verblutet. Doch war hier nicht überall Blut? Waren hier nicht überall offene Wunden? Die Panik war das Hauptproblem. Die Wucht der Explosionen, das Chaos und das Gebrüll konfrontierte die Männer mit ihrem ärgsten Gegner: der Angst. Der Seegang konnte das Schiff noch so arg beuteln, es mit Wasser volllaufen lassen, Hitze ihnen die Haut in Blasen werfen, Eiseskälte die Finger und Zehen abfrieren, das waren Seiten derSeefahrt, die sie kannten. Sobald aber die schiere Angst sie packte, dann weinten und greinten sie, riefen nach Frauen, Kindern und Müttern.
Ich muss durchgreifen,
entschied Carl und setzte zum ersten Stich an.
Ich muss die Versorgung der Verletzten organisieren.
    Aus den Augenwinkeln bemerkte er Doc Havenport, wahrscheinlich hatte er von den Explosionen, vergraben in seiner Kajüte, erst jetzt Nachricht erhalten – anders ließ sein spätes Erscheinen sich nicht erklären. Die braune Ledertasche unter den Arm geklemmt, hielt er kurz neben Franklin inne, der einen Matrosen zur Reling zog.
    Carl winkte Doc Havenport zu. Nie war ihm aufgefallen, wie alt der Schiffsarzt war. Wie sollten sie diesen gebrechlich wirkenden Mann wohlbehalten nach Hause bekommen? »Was haltet Ihr davon, Euch um die Schnittwunden zu kümmern«, rief er ihm zu, als er den Faden an der Wunde des Jungen verknotete und den verbleibenden Rest abschnitt. »Nehmt Myers mit. Ich werde«, er packte Marc Middleton, der an ihm vorbeieilte, am Arm, »mit ihm in der Offiziersmesse die Brüche und weiteren Wunden behandeln.«
    Marc verharrte, und Carl spürte, dass sich der Körper seines Gehilfen versteifte.
Manche brüllen vor Angst, die anderen haben einfach keine Worte mehr. Doc Havenport nicht, Marc nicht, und selbst Franklin sind seine Kommentare ausgegangen. Es ist, als würde ich mit mir selbst reden.
»In meiner Kajüte steht linkerhand eine weitere Tasche mit allerlei medizinischen Gerätschaften, hole sie und bereite in der Offiziersmesse alles vor. Wir werden den Tisch zur Behandlung der Verwundeten brauchen«, wies er Marc an. Ohne eine Antwort zu erwarten, beugte er sich über den nächsten Verletzten.
    »Wie kommt Ihr dazu, das Gesinde in die Offiziersmesse zu lassen?«
    Carl sah auf und verspürte den Drang, seine Faust in Kyle Bennetters Fratze zu versenken. Dieser Unheilstifter zettelte eine Diskussionan! Jetzt. Hier in diesem Chaos. Er atmete noch einmal tief durch. »Wir haben schätzungsweise zehn bis fünfzehn Verletzte, die schnellstmöglich behandelt werden müssen. Wir haben keine Wahl, wir müssen die Messe kurzfristig zum Lazarett umfunktionieren. Und darüber werde ich nicht mit Euch diskutieren. Gern können wir die Frage aber wieder mit dem Kapitän besprechen.«
    Bennetter schnaufte, drehte sich um und verschwand.
    Carl grinste. »Lasst lieber das Deck zügig reinigen, damit wir weitere Stürze vermeiden«, rief er dem Bootsmann hinterher.
***
     
    Er spürte, wie die Nadel in seine Haut stach und dass der Faden hindurchgezogen wurde. Es schmerzte nicht, aber die Angst ließ ihn schreien. Er schrie und schrie und erinnerte sich, als Kind stets gekotzt zu haben, sobald ihn die Angst gepackt hatte. Nach dem Kotzen war es ihm besser gegangen, müde und ausgelaugt hatte er dann seine Ruhe gefunden. Doch er konnte nicht kotzen. Den Kopf zur Seite gedreht, presste er das Gesicht gegen Tonis Hose. Sie war nass, stank nach Bierwürze und kratzte.
    »Du hast

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