Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
merkwürdig bei den Menschen in England«, erklangnoch einmal die Stimme des Freundes in seinem Kopf. »Sie hüten ihre Sachen. Sie hüten einfach alles. Und sie geben sie nicht mehr her. Nur sehr ungern, und wenn sie doch etwas hergeben, möchten sie etwas anderes dafür haben. So wie sie das hier auch gemacht haben.« Omai und er hatten damals beide einen Moment geschwiegen. Sie waren sich einig gewesen: Tiere konnte man hüten, aber nicht Sachen.
Viel Zeit war seitdem vergangen. Und seit jenem Abend hatte er den Zinnsoldaten über die Monde hinweg gehütet.
Rio de Janeiro, 5. Oktober 1785
Es war kein Gebrüll, es war mehr ein Aufheulen gewesen. Und auch in Carl hatte etwas aufgeheult, freudig, fast fiebrig, und ihn nach draußen an die Reling gedrängt, kaum dass der Ruf »Land in Sicht« erklungen war. Leicht war von diesem Moment an alles geworden. Selbst die letzte Faser seines Leibes hatte Reserven freigesetzt, die in den vergangenen Wochen verborgen geblieben waren. Die Arbeit hatte sich von nun an beinah spielerisch erledigt, und der Umgang der Mannschaft untereinander wurde ungezwungen, nahezu friedlich. Man hatte gescherzt, miteinander gesungen, und Lukas’ Dudelsack ertönte ohne Unterlass.
Sechs Tage waren sie seit jenem Ausruf auf südlichem Kurs parallel an Südamerikas Küste entlanggefahren, mit dem Wissen, dass Rio de Janeiro nur einen Steinwurf entfernt lag. Hier konnte Holz geschlagen, frisches Wasser und Gemüse aufgefüllt werden. Mit ein wenig Glück würden sie auch wieder lebende Tiere an Bord nehmen können und so dem Dörrfleisch für ein paar Tage eine willkommene Abwechslung entgegensetzen.
Seit sechs Tagen hielt auch Carl immer wieder Ausschau nach Rio de Janeiro, und bisher hatte er sich nicht sattsehen können. Grandiose Landschaften erstreckten sich vor ihnen: steinige Hügel, zerklüftete Felsen, grüne Täler und liebliche Buchten. Nichts, was es woanders auf der Welt nicht auch gab, und doch schön wie nie. Seine verödeten Sinne berauschten sich immer aufs Neueam Ausblick und am Wind, der vom Land kam und den Geruch feuchter Erde vor sich hertrieb.
Am zweiten Tag war ein erstes kleines Fischerboot auf den Dreimaster zugekommen und hatte seine Ware feilgeboten. Als hätten alle Fischer der Küste den Verkauf beobachtet, paddelten nun beständig kleinere und größere Boote der
Sailing Queen
entgegen und priesen frischen Fisch an. Einer der Männer hatte zu Carls Erheiterung das spanische Silbergeld ausgeschlagen und nach englischen Münzen verlangt. Er hatte erhalten, wonach er verlangte, und im Gegenzug besonders gute Fische ausgewählt.
Schon vom ersten Kauf an hatte Carl sich vorn an die Reling gestellt und jeden der Fische gesichtet, die an Deck gereicht wurden. Er hatte Mary angehalten, Skizzen zu machen, sich Form und Farben zu notieren. Noch immer fiel es ihm schwer, ihr Aufgaben zu übertragen, ihr Anweisungen zu geben, manchmal ertappte er sich sogar dabei, dass er ihr aus dem Weg ging. Er konnte nicht umhin, sie als Frau wahrzunehmen, und musste sie doch als Mann ansprechen. Konzentration erforderte dieser Umgang, gelegentlich nahm er nahezu groteske Züge an. Bei fast jedem Satz, mit dem er sich an sie wandte, betonte er ihren Namen:
Marc
. Immer wieder
Marc
.
Marc, könntest du … Marc, würdest du …
Und so war auch der Auftrag, die Fische zu skizzieren, mit
Marc
eingeleitet worden. Der Smutje hatte die Augen gerollt, als er gehört hatte, dass erst der Zeichner ans Werk gehen würde, und sich dann doch damit abgefunden, dass ihm eine Vielzahl der Fische erst später, nach Abschluss der ersten Arbeiten, in die Kombüse gebracht wurde.
»Der Zuckerhut! Der Zuckerhut!« Die Stimme des Schiffsjungen, der im Krähennest Ausschau hielt, verursachte Carl eine Gänsehaut. Der Seehafen von Rio de Janeiro tauchte vor ihnen auf. Er zwängte sich zwischen die Männer, schob ein wenig mit der Schulter und drängte mit der Hüfte, bis er einen Platz ergattert hatte, der ihn die Küste überblicken ließ.
Uneinnehmbar
, dachteer, als er wenig später den Seehafen erblickte.
Diese Stadt ist uneinnehmbar
.
Die feinsandige Bucht südlich des Zuckerhuts wurde mit einer Geschützabteilung von mehr als zwanzig Kanonen abgedeckt. Am Fuße des Berges konnte er in einer Landenge ein steinernes Fort erkennen, das ebenfalls mit Kanonen versehen war, die nur dem Zwecke dienten, einfahrende Schiffe treffen zu können. Am Eingang der Bucht konnte er Fort Lozio ausmachen,
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