Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
geträumt. Einen bösen Traum, der sie frösteln ließ.
»Die Taufe beginnt. Beeil dich. Und leg keines deiner guten Kleidungsstücke an.« Franklin hob eine leinene Weste in die Höhe und musterte sie. Ohne sie aufzuknöpfen, zog er sie über ein graues Hemd, das Mary noch nie an ihm gesehen hatte. Der schlichte Schnitt und die gedeckte Farbe standen ihm.
»Sie werden mich ohnehin taufen«, seufzte Mary. »Bennetter hasst mich. Er würde es sich nie entgehen lassen, mich ins Wasser stürzen zu sehen.«
»Du weißt schon, dass du mindestens dein Hemd ablegen musst, um getauft zu werden? Ebenso Schuhe, Mütze, Halstuch?« Den Kopf schräg gelegt, hielt er inne. Anscheinend verstand er das Schweigen und fuhr fort. »Heute Mittag habe ich unseren Freikauf geregelt. Wir verzichten vier Tage auf den Branntwein. Die Kerle hatten glänzende Augen, die wollen nicht uns, die wollen Hochprozentiges. Und jetzt: raus!«
»Warum machst du das?«
Franklin zögerte, doch Mary hielt seinen Blick fest. »Was soll die Frage?«, wich er aus.
»Bitte sag mir, warum machst du das alles?«
Seit sie San Jago verlassen hatten, hatte er kein Wort mehr über die Enttarnung verloren. Den ersten Abend hatte er geschwiegen und war dann zur Tagesordnung übergegangen.
Nochmals neigte er den Kopf zur Seite. »Du verstehst es wirklich nicht, oder?«, fragte er und zog eine Braue in die Höhe.
»Es gibt so viele Gründe, die ich für denkbar halte, aber …«
»Ja, vielleicht ist es genau das – dass es viele Gründe gibt. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wirst du es irgendwann verstehen. Vielleicht auch nicht.«
***
»Hast du alles erledigen können?«, fragte Carl und schaute aufs Wasser hinaus.
Franklin nickte. »Sie wollte wissen, warum ich das für sie mache. Warum ich ihr Vergehen nicht preisgegeben habe.« »Du kannst ihr keinen reinen Wein einschenken.«
»Ich weiß, aber wäre es nicht sinnvoller, wenn wir zumindest den Kapitän einweihen würden?«
»Nein, dem Kapitän bliebe keine Wahl, er könnte nicht schweigend darüber hinweggehen. Und was soll er machen? Sie in ihrer Kajüte unter Arrest stellen? Ich bin mir sicher, dass die Männer der Mannschaft auf Dauer schwer im Zaum zu halten wären, wenn sie wüssten, ein Frauenzimmer weilt unter ihnen. Es reicht, wenn sie denkt, dass du es weißt. Sie muss in ihrer Rolle bleiben. Ich sage dir, es entstehen zu viele vertrauliche Momente, wenn sie sich in unserer Gegenwart sicher fühlt, wenn sie weiß, dass wir ihre Lüge vertuschen. Vielleicht würde sie sogar anfangen, Forderungen zu stellen, dass sie gewisse Aufgaben nicht übernehmen kann, weil sie eine Frau ist, dass wir Rücksicht nehmen sollen.«
Franklin nickte. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Sie muss Tag und Nacht darum kämpfen, ihre Täuschung aufrechtzuerhalten, auch vor dir. Nur so haben wir eine Chance durchzukommen.«
Die ersten Matrosen sammelten sich am Hauptmast in Erwartung der anstehenden Salztaufe. Zwei der Männer liefen an ihnen vorbei, sodass sie einen Moment schwiegen.
»Du willst mir die öffentliche Bloßstellung ersparen, nicht wahr?«, fragte Franklin, als die beiden außer Hörweite waren.
»Sicher, auch das ist ein Grund.«
Carl musterte Franklin, der angespannt wirkte. Immer noch trug er schwer an seiner Fehlentscheidung. »Das hätte mir auch passieren können«, sagte er und klopfte seinem Gehilfen auf die Schulter.
»Wir hatten viel Arbeit in diesen Tagen, aber ich habe mir keine Empfehlungsschreiben vorlegen lassen. Ich habe die Arbeiten gesehenund war beeindruckt und habe ihr tatsächlich alles geglaubt, was sie mir erzählt hat. Das hätte nicht geschehen dürfen.«
»Bisher hat sie sich in ihren Arbeiten bewährt.«
Trocken lachte Franklin auf. »Als ich versucht habe, mich damit zu verteidigen, hast du genau diese Argumentation in Grund und Boden getreten.«
»Himmel, ich war wütend«, sagte Carl und konnte ein Grinsen nicht zurückhalten. »Sie hätte ich anfahren müssen, nicht dich.«
»Wir sollten sie trotzdem nicht aus den Augen lassen. Was ist, wenn wir auf Exkursionen gehen? Können wir sie allein an Bord zurücklassen?«
Carl seufzte. »Dann nehmen wir sie mit, das ist das kleinere Übel. Allerdings kannst du mit ihr nicht weiterhin die Kajüte teilen. Sollte die Wahrheit ans Licht kommen, würde das ein noch schlechteres Licht auf uns werfen.«
»Was sollen wir denn machen? Willst du zu mir ziehen und ihr deine Einzelkajüte überlassen? Da horcht doch
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