Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
als er mit Peacock zusammenstieß. Marc hockte neben Lukas, der auch schon erste Beute gemacht hatte, und die Männer in den Masten waren mit ihrer Arbeit beschäftigt.
Langsam hob er das Netz. Der Schmetterling lief einige Schritte auf der Stufe entlang, und seine Flügel zitterten einen Moment, bevor er sich in die Luft erhob.
Seth atmete tief ein und schlenderte zu Lukas und Marc hinüber.
»Und«, Marc wandte sich ihm zu, »war das Jagdglück dir hold?«
»Leider nicht.« Er zögerte einen Moment, dann gab er sich einen Ruck. »Kann ich dir helfen?«, fragte er, ohne den Blick von Lukas’ Schmetterling zu nehmen.
Erstaunt blickte Marc ihn an.
»Naja, beim Schreiben oder Malen oder so. Vielleicht kann ich wieder deine Pinsel auswaschen.«
»Just wollte ich Lukas’ Fang in die Kajüte bringen. Wenn du magst, begleite mich.«
Seth griff nach Marcs Netz. Mit erhobenem Haupt folgte er ihm aufs Achterdeck.
Rio de Janeiro, 6. Oktober 1785
Carl öffnete das Kajütenfenster. »Wollen wir hoffen, dass unsere Beobachtungen stimmen«, flüsterte er und warf das Seil in die Tiefe.
»Jetzt ist keine Wachpatrouille im Hafen unterwegs.« Franklins Stimme klang wie die eines kleinen Jungen, der darauf brannte, ein großes Abenteuer zu wagen.
Carl ließ sich am Seil hinab. Kurz darauf hörte Mary, wie er in der Jolle landete. Sie hob die erste Tasche mit den Sammelutensilien, Pinseln und Skizzenblöcken an und reichte sie Franklin, der sie am Seil verknotete und in die Tiefe sinken ließ. Es folgte der Proviantbeutel, den Henry gepackt hatte.
»Jetzt bist du dran.« Franklin gab ihr das Seil in die Hand.
Mary zögerte. »Warum nehmen wir nicht die Seitenstufen?«, flüsterte sie.
»Weil die dem Hafen zugewandt liegen, auf dieser Seite haben wir Sichtschutz. Beeile dich, du schaffst das.« Er packte das Seil und zog es zwischen seine Beine. »Du klemmst es dir zwischen die Schenkel und Waden, dann kann dir nichts geschehen. Und wenn du doch fallen solltest, schrei nicht auf. Carl fischt dich schon aus dem Wasser.«
Mary kletterte aus dem Kajütenfenster und ließ sich das erste Stück am Seil hinabrutschen. Der Mond warf einen silbrigen, spitz zulaufenden Streifen auf die glatte Wasseroberfläche.
Direkt unter ihr stand Carl in der schwankenden Jolle und hielt seine Arme in die Luft gestreckt.
Mary schloss die Augen und spürte seine Hände auf ihrer Hüfte. Sein Gesicht war dicht vor ihrem, in der Dunkelheit kaum mehr als ein Schattenspiel von Brauen, Nase und Mund. Wortlos drehte sie sich weg und ließ sich auf die Bank sinken, während Carl Franklin in Empfang nahm.
Die beiden nehmen mich mit
, jubelte es in ihr,
sie nehmen mich wirklich mit. Zwei der bedeutendsten Wissenschaftler Englands nehmen mich mit auf eine Exkursion, eine verbotene dazu.
Ihre Hände waren kaltschweißig und umklammerten den Beutel auf ihrem Schoß.
Franklin blieb stehen und nickte in Richtung der Ruder hinüber. Die Hitze stieg Mary ins Gesicht, flugs sprang sie auf und tauschte im schwankenden Boot mit Franklin die Plätze. Nahezu geräuschlos ließ sie einen Atemzug später die Ruderblätter ins Wasser sinken.
Vorab waren klare Absprachen getroffen worden: Während der Überfahrt sollte kein Wort gewechselt werden, bis sie an einer weniger frequentierten Stelle des Hafens angelegt hatten. Auch in der Stadt hatten sie noch zu schweigen, um nicht sofort an ihrer Sprache als Fremde erkannt zu werden. Schnellstmöglich wollten sie in Richtung der Berge laufen und erst Rast machen, sobald sie im Wald verschwunden waren.
Angespannt behielten sie zu dritt den Hafen im Auge, aber niemand schien die kleine Jolle zu bemerken, die sich langsam durchs Wasser schob.
Marys Beine zitterten, als sie festen Boden unter ihren Füßen spürte. Die spärliche Beleuchtung des Hafens und auch der Gassen, durch die sie nun eilten, ließ wenig von Rio de Janeiro erkennen. Sie folgte den Männern vor sich und glaubte, das Herz müsse ihr überlaufen.
Das ist Glück
, dachte sie.
So fühlt sich Glück an, Vater.
Es dämmerte bereits, als Carl seinen Beutel abstellte und sich auf den sandigen Boden sinken ließ. Im Schutz wilder Büsche konnten sie die vor ihnen liegende Lichtung gut im Auge behalten, ohne selbst sofort wahrgenommen zu werden.
Franklin holte den Wasserbeutel, Brot und Käse hervor. Beim Anblick der einfachen Mahlzeit obsiegte der Hunger und verdrängte Marys bisherige Anspannung. Schweigend aßen sie, und mit jedem Bissen
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