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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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dir. Lass uns gemeinsam zu Mutter und Vater gehen.
***
     
    Laternen hüllten die Männer, die beieinanderstanden, in goldgelbes Licht. Schweigend umringten sie den Hauptmast. Auf der Fockrah hockte Lukas, der sich vornüberbeugte. Mary kniff die Augen zusammen und sah ein Messer blinken, das ein Seil durchtrennte, einen blonden Haarschopf, der in hochgereckte Arme sackte und aus ihrem Blickfeld verschwand. Ein gellender Schrei ertönte. Es war Seths Stimme, er musste irgendwo zwischen den Männern stehen, irgendwo in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Er schrie so jämmerlich, dass Mary fürchtete, ihr Herz würde in feinste Splitter zerfallen. Dann verstummte der Junge, und die gespenstische Stille, die das Geschehen bereits zuvor umgeben hatte, kehrte zurück.
    Mary blieb auf der Treppe stehen, die vom Achterdeck hinabführte, und klammerte sich am Geländer fest.
    Nein, Nat,
flehte sie,
das darf nicht sein
.
Er ist fast noch ein Kind, er hat nach uns zu gehen. Wie viel Raum will sich der Tod auf unserem Schiff denn noch verschaffen?
    Die Traube der Männer öffnete sich, und eine Gasse entstand. Zuerst konnte sie Sohnrey erkennen, der die Knöchel des Jungen umfasst hatte. Mit den nackten Füßen voraus wurde der Leichnam über Deck getragen. Henry hatte ihn unter den Achseln gepackt, sodass der Leib zwischen den Männern bei jedem Schritt hin- und herschaukelte. Die Prozession verließ die Gasse, und die Männer drängten wieder zusammen, enger als zuvor standen sie beieinander. Und über ihnen, auf dem Mast, hockte Lukas, dessen Schultern vom lautlosen Weinen bebten.
    Magensäure schoss Marys Hals hinauf und verätzte den Kehlkopf, als sie die Reflexe des blakenden Lichtes über Nats weizenblondes Haar tanzen sah. Sie wankte zur Reling, spie in hohem Bogen und wischte sich mit dem Arm über das Gesicht. Schwerfällig hob sie den Kopf, um sich zu vergewissern, ob all das hier gerade tatsächlich geschah.
    Ja, es geschah.
    Toni schob sich durch die Männer, Seth auf den Armen.
    Mary zuckte zusammen. Der Junge hatte gesehen, wie Nat am Mast baumelte, das verzerrte Gesicht war das letzte Bild des Bruders, das sich in ihn eingebrannt hatte.
    Sie spürte den Impuls hinüberzustürzen, Seth die Stirn zu streicheln und ihn mit sanftem Flüstern zu besänftigen. Ihn in einen traumlosen Schlaf der Erschöpfung zu wiegen, der ein paar Stunden Erlösung versprach. Doch sie blieb stehen und verhielt sich wie jeder an Bord: Sie schwieg. Schwieg hilflos.
     
    Leise öffnete Mary die Tür.
    Nat lag auf dem Behandlungstisch.
    Bald habe ich mehr Tote auf diesem Tisch gesehen als lebendige Patienten,
dachte sie und zog die Tür hinter sich zu.
    Kapitän Taylor und Sohnrey standen am Kopf des Tisches, während Carl sich vorbeugte und das Seil, das um den Hals des Jungen geschlungen lag, genauer ansah. Kurz blickte er auf und nickte ihr zu, sie solle hinüberkommen.
    »Nathaniel Bennetter hat also mit Sicherheit selbst Hand angelegt?«, fragte Kapitän Taylor.
    Carl beugte sich noch weiter vor und nickte.
    Mary folgte seinem Blick. Getrocknete Spuren weißen Salzes zogen sich über Nats Wangen. »Er hat geweint«, entfuhr es ihr. Erschrocken schaute sie auf, nichts lag ihr ferner, als das Gespräch der Männer zu unterbrechen.
    »Das kann man nicht mit Bestimmtheit sagen.« Carls Stimme war brüchig. »Wenn der Tod eintritt, erschlaffen die Muskeln. Die Blase verliert ihr Wasser, der Darm entleert sich, und häufig tritt letzte Tränenflüssigkeit aus den Augen. Vielleicht hat er geweint, vielleicht auch nicht.«
    Wieder blickten sie auf den Jungen.
    »Hat der   …«, Sohnrey zögerte, bevor er weitersprach, »hat es lange gedauert?«
    Carl zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Wenn sein Genick gleich gebrochen ist, ging es schnell. Ist es nicht gebrochen, ist er erstickt. Wir könnten das prüfen, aber ich denke, das ist nicht vonnöten.« Er nahm eine Schere, schob die Finger an Nats Kehlkopf entlang unter das Seil und schnitt es auf. Unter dem Knoten zeigte sich eine bläulich rote Verfärbung und aufgeschürfte Haut. »Sein Bruder hat ihn gefunden«, fuhr er dabei fort, »wer weiß, ob er den Todeskampf hat miterleben müssen. Grausam. Erst den Vater sterben sehen und jetzt auch noch das. Wo ist er?«
    »Sie haben ihn ins Mannschaftsdeck getragen und kümmern sich um ihn.« Mary schluckte, doch ihre Kehle blieb staubtrocken.
    »Lasst uns nach Segelmacher-John schicken, er soll die

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