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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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Hängematte des Jungen mitbringen«, sagte Taylor. »Und wer schaut nach dem kleinen Bennetter?«
    »Das übernehme ich.«
    Dankbar nickte der Kapitän Mary zu und verließ die Kajüte.
     
    Da an Schlaf nicht zu denken war, hatten die Männer die Back heruntergelassen. In ihrer Mitte, nicht mehr als ein winziges, in sich zusammengesacktes Häufchen Mensch, hing Seth.
    Vor Bartholomäus stand ein Holznapf, aus dem er mit einem Löffel Wasser schöpfte. Die Bewegungen seines linken Armes waren ruhig und gleichmäßig, als hätte er nie den anderen genutzt. »Kleiner, du musst was trinken«, sagte er sanft und strich dem Jungen eine Strähne aus der Stirn.
    Seth schien den Löffel, der seine halbgeöffneten Lippen berührte, nicht zu spüren. Vorsichtig flößte ihm die Pranke des Matrosen einen Schluck Wasser ein, das aus den schlaff herabhängenden Mundwinkeln wieder herauslief.
    »Das ist mein Löffel«, knurrte Edison, »her damit. Ich habe meinen Löffel noch nicht abgegeben.«
    Mary stockte der Atem, und auch Lukas und die anderen Männer, die am Tisch saßen, hielten für einen Augenblick inne. Sie verharrten in ihren Bewegungen und starrten zu Edison hinüber.
    Nur Bartholomäus schien den Satz nicht vernommen zu haben. Er legte den Löffel behutsam auf den Tisch, dann holte er aus und ließ seinen Handrücken auf Edisons Nase krachen. Durch die abrupte Bewegung schoss sein Stumpf in die Höhe und fiel gegen den Oberkörper zurück. Kurz verzog Bartholomäus das Gesicht und presste die Hand auf den Stumpf. Ruhig blickte er Edison an. »Wenn du jetzt nicht endlich mal dein Schandmaul hältst, sorge ich persönlich dafür, dass du deinen Löffel nie wieder brauchst. Das sage ich das allerletzte Mal. Krüppel bin ich eh schon, und für dich werde ich auch noch zum Mörder, wenn es sein muss.«
    Edison wich zurück.
    Bartholomäus zog seinen Hemdsärmel in die Länge, wischte Seth die Mundwinkel trocken und hob den Holznapf, um ihn dem Jungen an die Lippen zu führen. Dabei stieß er mit dem Ellenbogen den Löffel vom Tisch. »Komm, Kleiner, nun mach schon. Trink«, sagte er mit unbewegter Stimme und stellte den Fuß auf den Löffel.
    Edison ballte die Fäuste, blieb aber auf seinem Platz und rührte sich nicht.
    Wir fallen hier alle noch dem Wahnsinn anheim
, fuhr es Mary durch den Kopf. Hastig trat sie vor in den Lichtkegel der Lampe, deren verbrennendes Öl tranig roch. »Wie geht es ihm?«, fragte sie leise.
    Lukas schaute auf. »Gut, dass Ihr kommt, Mr.   Middleton. Er hat kein Wort mehr gesprochen. Seht selbst   …«
    Mit der Hand fuhr er vor den Augen des Jungen auf und ab, ohne dass der mit der Wimper zuckte. Leer hing der Blick im Raum, als wäre er über das Gesehene erblindet.
    »Er fiebert, glaube ich.« Bartholomäus’ Stimme ließ Mary aufschrecken. Er tunkte den Rand seines Ärmels in den Wassernapfund zog den tropfenden Stoff über Seths Nacken. »Er schwitzt, und seine Stirn glüht.«
    Mary ging in die Knie und schob die rechte Hand unter ihr Hemd, um die Wärme des Streifens Haut, den der Brustwickel freiließ, zu spüren. Mit der Linken fasste sie nach Seths Leib, der keine Reaktion zeigte, sein Rücken blieb gekrümmt, die Haut seines Bauches in Falten gelegt. Als würde sie ihn nicht berühren, als wäre er nicht anwesend. Bartholomäus hatte recht. Der Junge glühte.
    »Wir sollten ihn ins Behandlungszimmer schicken«, schlug Lukas vor, während seine Finger auf die Holzplatte der Back trommelten.
    Mary schüttelte den Kopf. »Da ist gerade Segelmacher-John«, flüsterte sie, »dort kann er nicht hin.«
    Lukas ächzte auf, und das Trommeln seiner Finger wurde schneller.
    Vorsichtig nahm Mary die Hand von Seths Bauch, zog sein Hemd glatt und strich über sein Haar.
    Der letzte weizenblonde Schopf an Bord.
    »Bringt ihn bitte in meine Kajüte«, sagte sie und wandte sich Toni zu. »Er kann in die Koje von Franklin Myers gelegt werden.«
    Der Zimmermann, der schweigend im Hintergrund gestanden hatte, trat vor. Mit einer Leichtigkeit, als würde er ein Häufchen Federn ergreifen, nahm er den Jungen auf die Arme. Der rührte sich nicht. Sein Blick glitt durch jeden von ihnen hindurch.
    Sie näherten sich dem Niedergang und hörten Schritte auf den Stufen. Segelmacher-John kam ins Mannschaftsdeck herunter.
    Dann hat er Nat in seine Hängematte eingenäht,
dachte Mary und sah den schmalen Segeltuch-Kokon vor sich, der nun in Doc Havenports Kajüte lag. Es dunkelte bereits. Sicher würde Kapitän

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