Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
die Hängematte zurücksinken. Sein Herzschlag wurde regelmäßiger, doch die Müdigkeit war verflogen. Leise setzte er die Füße auf den Boden und schob sich an Bartholomäus vorbei, darauf bedacht, nicht den Verband zu berühren. Es war stickig unter Deck und stank nach Furzen und faulem Atem. Er brauchte Luft. Die Stufen des Niederganges knarrten. Bei jedem Schritt verharrte Seth und lauschte, ob er irgendjemanden mit seinem nächtlichen Ausflug weckte.
Als er die Luke des Niederdecks öffnete, spürte er den Wind. Kühl und salzig strich er über sein schweißnasses Gesicht. Er kletterte auf Deck und blieb breitbeinig in der Dunkelheit stehen. Die Nachtwache war nicht zu sehen. Das Schiff schob sich durch seichte Wellen, und am Himmel waren nur vereinzelte Wolken im Mondlicht zu erkennen.
Seth atmete tief durch. Die Luft beruhigte ihn. Für einen Moment glaubte er, einen beißenden Geruch auszumachen. Nochmals sog er die Luft ein. Keiner der Männer würde es wagen, auf Deck zu scheißen, nicht einmal in tiefster Nacht. Unter Deck, das war etwas anderes. Dort gab es dunkle Ecken, aber hier? Er musste sich geirrt haben. Er hörte ein leises Geräusch, direkt nebensich. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wieder vernahm er das Geräusch, es war ein leises Klopfen. Ein Stück von ihm entfernt, auf den Planken. Seth trat einen Schritt vor. Was war das? Eine kleine, kreisrunde Lache glänzte auf dem Holz. Und jetzt sah er es. Es war kein Klopfen, vereinzelte Tropfen fielen vom Himmel. Direkt in die Lache. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen, schneller als zuvor.
Was tropfte da?
Langsam hob er den Kopf.
Zuerst sah er die Füße, direkt über sich.
Nackte, weiße Füße.
Sein Blick fuhr an den Knöcheln entlang, die Hosenbeine hinauf. Eine helle Leinenhose. Selbst im Mondlicht konnte Seth erkennen, dass sich eine dunkle, feuchte Spur vom Schritt ausgehend den Stoff hinabzog. Ungläubig schaute er auf die Hände und die Arme, die schlaff neben dem Körper herabhingen. Der Wind bauschte kurz das Hemd auf. Seth hatte gehofft, dass Nat schneller wachsen und ihm das Hemd bald zu klein werden würde. Er hatte sich auf den Tag gefreut, an dem er es vererbt bekommen würde. Sein erstes Hemd mit roten Ringeln, und das vielleicht noch nach Nat gerochen hätte. Sein Blick wanderte weiter in die Höhe. Der Kopf des Bruders hing nach vorn geneigt. Das Kinn berührte fast den Brustkorb. Die Augen waren geschlossen. Der Mund stand offen. Um den Hals lag ein Tau, das sich tief in seine Haut eingeschnitten hatte. Das obere Ende war an der Fockrah verknotet. Eine Welle ließ das Schiff schlingern, und Nats Körper pendelte, den Bewegungen des Mastes folgend, hin und her. Seth stand starr und schaute, und sein Bruder baumelte im Wind.
Nein!
Nein!
Neiiiiiiin!
Mit einem Mal hörte Seth Schritte. Schnelle Schritte, die aufihn zukamen. Ein gehetzter Atem, eine Hand legte sich auf seine Schulter und schob ihn zur Seite.
»Nein, verdammte Scheiße, nein!« Lukas schrie, dass seine Stimme brach. So laut, wie das
Nein
in Seth hämmerte. Doch Nat blieb stumm. Und kalt. Vielleicht war er auch schon tot.
Er sah, dass Lukas die Arme hob und um Nats Beine schlang. Dass er versuchte, den Bruder in die Höhe zu heben.
»Nat, nein, nein!« Lukas hörte nicht auf zu schreien, und Tränen liefen sein Gesicht hinab. Er presste es gegen Nats Beine, wobei seine Wange auf der Pissespur lag.
»Was ist los? Verdammt, was ist da los?« Dan. Er musste im Krähennest sitzen. Seine Stimme klang verschlafen und ängstlich.
»Los, Kleiner, lauf. Hol Hilfe!« Lukas sah zu ihm herüber, und Seth erwiderte kurz seinen Blick. Dann schaute er wieder in Nats Gesicht.
Was soll ich denn tun?
»Bitte, Kleiner! Lauf! Hol die Nachtwache, hol den Kapitän. Hol Sohnrey, hol irgendjemanden. Mach was.« Die letzten Worte gingen in einem Schluchzen unter.
Seth wollte Lukas helfen, aber konnte der nicht sehen, dass er keinen Körper mehr hatte? Da waren keine Arme mehr, die zupacken, keine Beine, die laufen, keine Stimme, die rufen konnte. Kein Herz, das mehr schlug. Er hatte nur noch Augen, und die konnten Nat doch nicht allein lassen.
Mein Nat. Mein Möwenbezwinger.
Er blinzelte. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie liefen so voll, dass das Bild verschwamm. Lukas, der Nats Beine umklammerte. Der gesenkte Kopf, die baumelnden Arme.
Dann wurde es still. Das Bild flackerte.
Ja, das ist gut. Jetzt sterbe ich auch. Nat, warte auf mich. Ich komme mit
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