Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Schrittes war Mary gegen das Frösteln angelaufen, um in der Kälte der Dämmerung dem stickigen Dunst unter Deck zu entkommen.
Kurz sah sie auf, und Carl beugte sich über Bartholomäus’ Armstumpf. Die Wunde verheilte gut. Aus medizinischer Sicht ein Erfolg, ein wirklich beeindruckender Erfolg. Doch wie würde dieser Mann, den die Natur reich beschenkt hatte und dem zu Hause sicher alle Frauen nachsahen, wie würde er, der seine Arbeit liebte, darauf reagieren, dass er zum Krüppel geworden war? Noch lag er in einem Dämmerzustand, der ihn schützte, doch wer würde ihm Halt geben, wenn er erwachte?
Gern wäre sie wieder an Deck geflohen, um Trost zu finden. Trost für die Augen, die mit ansehen mussten, wie die Verletzten litten. Trost für die Nase, die den Gestank der ungewaschenen Männer, die mit eiternden Wunden nebeneinanderlagen, riechen musste. Trost für die Ohren, die das endlose Stöhnen vernahmen.
Carl und sie schliefen, um Wege zu vermeiden, bei der Mannschaft. Mal war es ein Husten, dann wieder ein Wimmern oder der Wachwechsel, der sie beide nachts aufschrecken, sich wortlos erheben und erneut ihre Runden drehen ließ, um Verbände zu wechseln, frische Lappen zum Kühlen zu verteilen und Medikamente zu verabreichen.
»Es ist der Tidenstand«, hatte der Kapitän an jenem Morgen gesagt, ohne sich umzuwenden. »Die von mir erstellte Tidenkurve«, er hatte auf sein Büchlein getippt, »gibt Aufschluss über die Phase des Niedrigwassers und die des Hochwassers.«
Mary lehnte sich neben Kapitän Taylor an die Reling und nickte. Mehr wusste sie nicht zu erwidern.
»Wir müssten es schaffen, die Meeresenge zu passieren, wenn wir die Windverhältnisse und den Tidenstand berücksichtigen.«Erleichterung breitete sich in ihr aus. »Das wäre gut. Wir brauchen milderes Klima, die Männer müssen sich erholen.«
Plötzlich sah Taylor sie an, konzentriert und eindringlich.
»Es tut mir leid, Mr. Middleton, aber es wird nur andersherum funktionieren: Bringt mir die Mannschaft schnellstmöglich wieder auf die Beine, nur dann können wir dieser Hölle hier entkommen.« Er schlug seine Notizen zusammen und verschwand.
Noch am selben Tag meldeten Carl und Mary dem Kapitän, welche Mitglieder der Mannschaft den Sturm unverletzt überstanden hatten, wen weder die katastrophale Ernährung geschwächt noch die Melancholie gepackt hatte.
Die Folgen waren drastisch: Die Freiwachen wurden verkürzt und die Besetzung in den Segeln auf das Nötigste reduziert. Doch niemand murrte. Wortlos arbeitete jeder Mann an Bord noch härter.
Die Berechnungen des Kapitäns erwiesen sich als richtig. Mit dem zweiten Versuch passierte das Schiff die Meeresenge und ließ die Le-Maire-Straße hinter sich. Reichlich Felsen ragten aus dem Wasser und mahnten scharfkantig, während das Schiff sich langsam durch die Wellen schob, dass die Mannschaft die Konzentration halten musste. Und so hatte jeder auf den letzten Meilen seine verbliebenen Reserven verbrannt.
Carl warf einen Blick auf die Wunde. »Das sieht erfreulich aus«, murmelte er und begann, die Ränder vorsichtig zu säubern. Bartholomäus wimmerte.
»Wenn wir bald Land erreichen«, fuhr Carl fort, »können wir die Sturmschäden reparieren, das Schiff reinigen und Wasser nachfüllen. Der Kapitän will die Geschütze unter Deck verstauen. Hoffentlich haben wir genug kräftige Männer zur Hand.«
»Ist das nicht gefährlich, wenn die Geschütze anderweitig gelagert werden?«
»Sie müssen gut vertäut sein, aber über das Gewicht im Ladedeckkönnen wir mehr Tiefgang erreichen«, sagte Carl und trat einen Schritt beiseite.
Mary bedeckte den Stumpf mit Scharpie.
Für eine Exkursion werden wir wohl kaum Zeit finden,
dachte sie, als die Luke des Niedergangs aufgerissen wurde.
»Land in Sicht«, rief Dan und ließ die Luke scheppernd zufallen.
Über Bartholomäus’ Hängematte hinweg starrten sich Carl und Mary an.
Es war kalt an Deck. Klar und wunderschön. Vor dem Schiff waren mehrere Inseln auszumachen, und die Männer stritten, welche von ihnen die südlichste sei.
»Hier«, sagte Carl und zeigte über das Wasser, »hier berühren sich Pazifik und Atlantik. Ein erhebender Anblick.«
Mary blieb einen Schritt hinter ihm.
Das ist Kap Hoorn?
, fragte sie sich und sah sich zweifelnd um.
Das sagenhafte Kap Hoorn? Nichts als ein grauer Felsen? Vater, was habe ich mir immer vorgestellt? In den Himmel ragende Felswände. Tiefschwarzes Gestein, aus dem Felsbrocken
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