Vom Aussteigen und Ankommen
Geschichte eines Berliner Professors, der seinen Besitz verkauft hatte und nach Südfrankreich aufs Land gezogen war. Sabine und Thomas hatten leider kaum etwas zum Verkaufen.
Aussteigen, das war eine Idee aus dem bürgerlichen Westen. In der DDR war das Leben ohnehin für die meisten Menschen einfach, der Arbeiter-und-Bauern-Staat war stellvertretend für alle aus den Zwängen des imperialistischen Weltkapitalismus ausgestiegen, und für den Einzelnen war darüber hinaus kein Ausstieg mehr vorgesehen. Jetzt war Berlin frei, doch Sabine und Thomas fühlten sich nicht frei.
»Ich wollte mich lösen von den Dingen, die alle taten. Von der rasanten Anpassung«, sagte Sabine. Die DDR wollte sie wirklich nicht zurück, aber die neue Welt hatte sie sich auch anders vorgestellt. Hier liefen alle dem Geld hinterher. Es schien ihr, als sei es kaum noch möglich, sich selbst zu erhalten. Sabine fragte sich, wo sie sich als alte Frau sehen wolle in vierzig Jahren, und der naive Wunsch, dann in einem Garten vor einem Landhaus zu sitzen und Kinder und Enkel mit Kuchen zu bewirten, war am stärksten. Ein Makler zeigte Sabine und Thomas Höfe in der Uckermark, sie kauften das Haus in Grünz für fünfundfünfzigtausend Mark: mit einem Kredit, Baukindergeld, Arbeitslosenhilfe und Dorferneuerungs-Fördergeld. 1997 zogen sie ein. Mittlerweile war ihr gemeinsames Kind geboren, Sabines drittes, bald kam das vierte.
Ein Sprung aus Berlin ins einfache Leben, so wie bei Ernst Wiecherts Romanfigur Thomas von Orla, als der Erste Weltkrieg noch der »große Krieg« war. Ihn führte die Suche nach unschuldigem Landleben nach Ostpreußen, wo er Fischer wurde in einer Welt der Hechte, Haubentaucher und der güldenen Sonne. Er wollte seine Jahre nicht mehr zubringen wie ein Geschwätz:
Güte und Weisheit und nichts haben wollen. Frieden schließen, aber den Frieden, hinter dem kein Krieg mehr steht (…), und er bedachte, dass bei reiferer Erkenntnis dem Menschen wohl nicht mehr gegeben sei, als in dem kleinen Umkreis seines Lebens das Rechte zu tun und zwei oder drei Menschen bei der Hand zu nehmen und sie zusehen zu lassen, wie man es tue.
In Grünz bewohnten Thomas und Sabine Müller anfangs nur einen Raum, alle anderen waren feucht, kalt und dreckig. Draußen stellten sie ein Plumpsklo auf. Sie entkernten das Gebäude. Der alte Kachelofen funktionierte noch, es gab keinen Wasseranschluss. Sie sanierten jahrelang. Da im Umkreis viele Zugezogene lebten, fanden die beiden schnell Anschluss, Sabine lernte im Nachbardorf eine norddeutsche Künstlerin kennen, die ihr die Malerei beibrachte, für ihre Kinder konnten sich die beiden mehr leisten als in Berlin, denn die Zugezogenen hatten einen Tauschring gegründet, den es heute noch gibt. Sabines und Thomas’ gemeinsames Monatseinkommen lag etwas höher als tausend Euro. Sie wollten bald noch mehr Gemüse selbst anbauen und auch Kartoffeln, dann hätten sie noch mehr für sich und mehr zum Tauschen.
»Wir haben hier eine gute Überlebenschance«, sagte Thomas.
Die beiden waren nicht sorgenfrei, weder finanziell noch sonst wie, aber sie wirkten so, als hätten sie viel vom Leben.
Der Tauschring in der Uckermark war eine interessante Konstruktion für eine Welt, in der es wenig Geld gab. Ein Bekannter hatte neulich die Spülmaschine von Sabine und Thomas repariert. Ein Sohn der beiden bekam Gitarrenunterricht, dafür arbeiteten sie immer wieder auf den Höfen der anderen mit. Ohne den Tauschring könnten die Zugezogenen hier nicht so gut leben: Einer züchtete Gemüse und gab den anderen Gemüsesetzlinge, der andere half bei der Ernte, dafür kochten die Gartenbesitzer Essen für die Erntehelfer mit. Etwa fünfzig Zugereiste und einige Einheimische nahmen daran teil. Einige boten Honig und Brot an, andere Fleisch und Ziegenkäse, wieder andere Pullover aus Filz, selbstgehäkelte Socken, Saatgut, Apfelsaft, holzgeschnitzte Löffel und Messer, Obstwein, Keramik, Polnischunterricht, Reiturlaub, Lebensberatung, Massage, Einkaufsdienste, Shiatsu-Kurse, Bauarbeiten. So war ein vielseitiges Leben möglich für die, deren Fähigkeiten der Markt nicht mehr wertschätzte. Im Tauschring bestimmten nicht Angebot und Nachfrage den Preis, denn es gab keinen anonymen Markt, sondern eine Ökonomie, in der man sich in die Augen schaute, wenn man einen Tausch machte. Auch sonst war vieles anders: Der Wert der Dinge wurde nach der dafür eingesetzten Arbeitszeit bemessen. Zwölf Uckertaler hatten einen
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