Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
soll das Leben werden. In dieser Hochstimmung sollte man darauf achten, keine weitreichenden Entscheidungen auf die Schnelle zu treffen, sondern zunächst innezuhalten und abzuwarten. Es ist nicht einfach in diesen Wellen der Begeisterung und Faszination, die von den neuen Chancen ausgehen, einen klaren Blick zu behalten. Festgefahrenes kommt ins Fließen, spannende Einsichten vertreiben die Langeweile, und der Mut zur Veränderung stärkt das Selbstbewusstsein. Nichts ist mehr so wie früher. Doch die Angehörigen und Freunde können nicht mehr Schritt halten. Das führt zu Komplikationen, denn man möchte gerne über seine Erfahrungen sprechen, möchte mitteilen, wovon das Herz voll ist. Der Partner wird aber argwöhnisch, wenn auf einmal seine Frau um halb sechs in der Früh zum Meditieren aufsteht, sich plötzlich nicht mehr für gesellschaftliche Verabredungen interessiert oder keinen Pauschalurlaub mehr buchen möchte. Stattdessen spricht sie von Klosteraufenthalten, Retreats oder Selbsterforschungsgruppen mit veränderten Bewusstseinszuständen. Fährt sie alleine dorthin, zieht der Partner im Nachhinein ihre Erfahrungen in Zweifel oder schimpft auf die unsinnige Geldausgabe. Dem Leiter gegenüber, von dem sie hingerissen erzählt, hegt er großes Misstrauen. Freunde hätten ihm auch schon mitgeteilt, dass sie in letzter Zeit etwas komisch geworden sei und ihre Ansichten nicht zu ihr passten. Die Suchende fühlt sich mit ihrer Begeisterung oft zurückgewiesen, abgelehnt, alleine und ungerecht behandelt. Das sind kritische Momente. Wichtig ist aber, sich jetzt nicht als Opfer der Umwelt zu fühlen, sondern zu verstehen, dass jemand, der den Kontext nicht kennt, natürlicherweise zunächst mit Abwehr und Eifersucht reagiert. Hin und wieder kann man aber auch Interesse durchhören, denn die Sinnsuche lässt niemanden kalt. Am besten ist es, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen und nur so viel zu erzählen, wie der andere auch aufnehmen und verarbeiten kann; vielleicht sogar darauf zu warten, bis er interessiert nachfragt. Bewahren Sie ihre Transformationserfahrungen als Schatz, den man nur dem offenbart, der sie verstehen kann.
Manchmal wird auch der Alltag etwas vernachlässigt, weil man sich einer anderen Welt zugehörig fühlt. Das Bisherige verliert an Bedeutung und Gewicht. Es kommt zu einseitigen Betrachtungen und Überbewertungen. Ein Tagebuch, in das Sie Ihre Einsichten und Erfahrungen einfach so, wie sie sind, aufschreiben, erweitert den Bezugsrahmen, und Sie können allmählich herausfinden, was auch dem Alltag standhält.
Die Aufnahmekapazität der Persönlichkeit ist nun aber jenen bahnbrechenden Erfahrungen noch nicht ganz gewachsen. Um ein stabiles Fundament zu schaffen, das die aufkommenden Kräfte tragen kann, müssen die inneren Strukturen neu justiert werden. Dabei landet man zunächst wieder auf dem harten Boden der Realität, wenn man bemerkt, dass spektakuläre Heilserwartungen fehlschlagen, weil eine dauerhafte Veränderung gewohnheitsmäßiger Lebensmuster nur sehr schwer gelingt. Nach erfolgversprechenden Schritten wird man mit den Bedingungen seines Gewordenseins, mit seiner Schicksalhaftigkeit und seiner neurotischen Struktur konfrontiert. Was zunächst wie ein Rückschritt aussieht, bedeutet nichts anderes, als dass die Persönlichkeit des Suchenden für den weiteren inneren Weg vorbereitet wird. Es ist natürlich auch eine Weggabelung, die manche abbrechen lässt, denn die Erfahrungen sind nicht mehr so glücklich und aufregend wie zuletzt.
Das Gefäß der Persönlichkeit muss einerseits geweitet und andererseits stabilisiert werden. Das ist ein wichtiges Durchgangsstadium, das zu starken Stimmungsschwankungen und Gegensätzen führen kann. Einmal fühlt man sich vom universalen Selbst geführt, dann ist man wieder weit davon entfernt und agiert wider bessere Einsicht. Nimmt man sich in Gesellschaft vor, weniger über andere abwertend zu sprechen und egozentrische Bedürfnisse zurückzustellen, dann kann tatsächlich das krasse Gegenteil eintreten. Will man achtsam mit seinen Triebkräften umgehen, können plötzlich sexuelle Fantasien oder Essverhalten extrem zunehmen. Dann gibt es Phasen, in denen die Einkehr sehr betont wird, und kurz darauf, wie aus heiterem Himmel, fühlt man sich veräußerlicht und agierend. Dieser Kontrast wird in der Regel sehr schmerzhaft erlebt, weil man eben schon erfahren hat, wie die andere Seite schmeckt. Wer über eine längere Zeit die Übungen
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