Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Stunden, wenn sich der Klient daran gewöhnt hat, das zu spüren, was in seinem Inneren passiert.
Die wachsende Kultur der Besinnung erfordert Ausdauer, Beständigkeit und Disziplin, weil eine systematische Innenschau Gewohnheiten und Muster durchbrechen muss, um der auftauchenden Phänomene wirklichkeitsnah gewahr zu werden. Achtsamkeits- und Aufmerksamkeitstechniken unterstützen die dafür erforderliche Zentrierung, insbesondere dann, wenn die obengenannten Hindernisse auftreten. In diesem Sinne sind auch Meditations- und Kontemplationsübungen, als besondere Formen des Verweilens in der Gegenwärtigkeit der inneren Erfahrung, wertvoll. Dies wirkt sich wiederum auf die Klärung bestimmter Fragen positiv aus. In der Kontemplation können Lebensthemen mit Hilfe der universellen Wirkkräfte vertieft und gelöst werden.
Damit wird klar, dass die Innenschau oder Introspektion je nach Tiefe auch als Besinnung, Versenkung, Kontemplation und Meditation bezeichnet werden kann. Dieser Blick nach innen gelingt nicht von alleine, sondern ist eine Kunst, die gelernt und kultiviert werden muss. Dazu muss auch das Spürbewusstsein, das Gefühl für meine seelischen und körperlichen Empfindungen, Gefühle und Stimmungen, für meine inneren Räume, für die Impulse und Gegenkräfte, allmählich verfeinert werden. Übergänge von einem Zustand in einen anderen werden fließender und runder. Dabei lernen wir auch, uns aufmerksam, mitfühlend, zentriert und präsent auf Erfahrungen einzulassen, gesunde Disziplin zu üben und mehr und mehr in der Gegenwärtigkeit zu verweilen, begleitet von tieferem Atmen, einer entspannteren Haltung zum Leben und weniger selbstbezogenen Aktivitäten.
Die systematische Innenschau kann somit als eine wissenschaftliche Erforschung des Geistes aus der Erste-Person-Perspektive betrachtet werden. Neben den Inhalten ermöglicht die Innenschau auch eine Seinserfahrung, in der ich mir als Wesen begegne und erkenne, wie ich in mir verankert bin und worauf meine Existenz bezogen ist. Wenn sich dabei der Geist weiter beruhigt, öffne ich mich für größere Zusammenhänge, in denen die Verflechtungen und Relationen, die in mir wirken, bewusst werden. Dies gelingt umso effektiver, je mehr ich innere Bewertungen loslasse, eine liebevolle Einstellung mir selbst gegenüber aufbaue, mich körperlich entspanne und den Atem tiefer werden lasse.
Die Endlichkeit der vergegenwärtigten Phänomene, die nun in ihrem Entstehen und Vergehen registriert werden können, spiegelt sich in der Überzeitlichkeit des angetroffenen Seins. So ist das, was ich dann erfahre, nicht mehr ein begrenztes Ich, Mich oder individuelles Subjekt, sondern ein untrennbares Ganzes. Das, was ich für andere und für mich zeitweilig bin, ist ein ins Dasein gekommenes Einzelwesen, das vorübergehend in einem raumzeitlichen Milieu identifizierbar ist, wie eine flüchtige Welle im Meer.
Einströmende Liebe öffnet und überwindet Grenzen, im Äußeren wie im Inneren. Wenn ich mich achte, werde ich innerlich weiter und kann mich tiefer spüren. Wohlbefinden und Wärme breiten sich in mir aus. Das kann man sogar körperlich, unter anderem im Bereich des Herzens oder des Bauches, spüren. Es fühlt sich so an, als würden sich die inneren Organe ausdehnen und die dazugehörigen Spürräume weiter werden. Der Atem wird fließender, und der ganze Körper entspannt sich. Wenn durch die Öffnung kontrahierter Leibräume weniger körperliche Spannungen die Aufmerksamkeit binden, werde ich mutiger und kann leichter den Weg nach innen fortsetzen. Die Gedanken und Empfindungen werden leiser, wenn unser inneres Ohr auf sie gerichtet ist. Wenn ich innehalte und nicht gleich dem Aufforderungscharakter auftauchender Impulse folge, kehrt mehr innere Ruhe ein. Der tiefer gehende Atem löst die Erregung, die gewöhnlich aufgebaut wird, um Gedanken und Empfindungen einzuordnen, zu bewerten und Handlungen vorzubereiten. Wertschätzung heißt hier, sich aller Bewertungen zu enthalten. Im Bewerten identifiziere ich mich mit den Anziehungs- und Abstoßungskräften, den Neigungen und Haltungen, Gereiztheiten und Faszinationen. Ich bin dann für einen Moment als das oder jenes existent und werde innerhalb der sich bildenden Gegensätze aktiv. Diese Befangenheit engt die Innenschau ein. Ich bin gefordert, einfach nur zuzulassen, was passiert, ohne etwas damit zu tun. Im Loslassen verringern sich die Greifbewegungen und identifizierenden Akte, so dass sich die Stille besser
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