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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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führen. Sobald wir uns bewusstmachen, wie wir fühlen, denken und handeln, können wir auch erkennen, dass wir subjektiv, parteiisch und voreingenommen sind.
    Diese Einsicht in die Relativität unserer Meinungen schützt uns davor, die eigene Wahrnehmung überzubewerten. Daraus erwächst das Bestreben, aufzuspüren, weshalb wir uns in bestimmten Situationen unsachlich verhalten. Unvermittelt können wir auf Kleinigkeiten heftig reagieren oder uns plötzlich unsicher fühlen. Deshalb ist es auch günstig, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und sich der Frage zu stellen, weshalb ich so bin, wie ich bin.
    Auf der nächsten Ebene begegnen wir möglichen Antrieben oder Ursachen, die hinter unserem Erleben oder Handeln stehen. Es ist für die innere Entwicklung unabdingbar, sich mit den Bedeutungen, Sinnzusammenhängen, Motiven und Strukturen, die hinter den sichtbaren Erscheinungen wirken, auseinanderzusetzen. Wie kommt das zustande, was ich fühle, was in mir abläuft und weshalb ich so und nicht anders handle? Häufig finden wir das alleine gar nicht heraus, so dass es günstig wäre, sich einer kompetenten Begleitung anzuvertrauen. Die schwierigsten Aspekte unseres Lebens müssen erst einfühlsam aufgedeckt werden, da sie sich gerade von selbst nicht zeigen, sondern mehr aus dem Unbewussten wirken. Diese etwas tiefer liegende Einsichtsebene bezieht sich auf die Hintergründe, auf die Strukturen und Ursachen. Sie ist das Kernanliegen der Psychotherapie.
    Nachdem ich anerkannt habe, was ist, kommen folgende Fragen auf mich zu: Warum ist es so, wie es ist? Woher kommt es, dass ich diesen Menschen hasse oder jene Entscheidung getroffen habe? Nun ist es wichtig, die Perspektive zu erweitern, indem ich Situationen vergegenwärtige, in denen ich Ähnliches, vielleicht in unterschiedlicher Intensität, erlebt habe. Plötzlich realisiere ich, wenn wir bei dem Beispiel von vorhin bleiben, dass Peter Wesenszüge meines Vaters verkörpert. Seine leeren Augen lösen in mir Hass aus. Es könnte natürlich auch sein, dass sich Peter etwas traut, wovor ich Angst habe. Daraufhin erinnere ich mich, dass mein Vater alles unterdrückt hat, was mir Spaß gemacht hätte. Wenn ich Fußball spielen gehen wollte, verdonnerte er mich zum Unkrautjäten, wollte ich mich mit Freunden treffen, musste ich Gedichte auswendig lernen. Unzählige solcher Geschichten werden in psychotherapeutischen Sitzungen bearbeitet.
    Nun beginne ich zu begreifen, weshalb ich so geworden bin, wie ich bin. Auf dem Hintergrund meiner Biographie wird meine Lebensgrundstimmung verständlich. So sagte mir ein Klient, dass er sich einfach irgendwie immer deprimiert fühle, sogar in Situationen, die eigentlich angenehm seien. Später wurde herausgearbeitet, dass er immer dann, wenn er Freude ausgedrückt hat, von der Mutter mit dem Satz »Sei nicht übermütig« zurückgewiesen wurde. Wenn ich realisiere, dass die Ursachen selbstzerstörerischer Verhaltensweisen mit früheren Kränkungen zusammenhängen, entsteht Selbstmitleid. Das Mitgefühl mit mir lindert den Schmerz der aufgebrochenen Wunden.
1. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit für einen Augenblick auf eine frühere familiäre Situation, in der Sie sich ungerecht behandelt fühlten.
 
2. Nun stellen Sie sich vor, wie Sie sich sanft über den Schmerz beugen, wie über ein kleines Kind. Ist das nicht wohltuend?
    In rascher Abfolge können immer mehr Szenen aus meiner Kindheit auftauchen, in denen etwas gefehlt hat oder mir Gewalt angetan wurde. Ich fühle mich ausgeliefert und ohnmächtig und erlebe mich als Spielball des Schicksals. Ich kann mich nicht entfalten und so in die Welt einbringen, wie es eigentlich meinen Fähigkeiten entspricht.
    Ein Hindernis, das hier auftreten kann, ist das Steckenbleiben in der Opferrolle und im Selbstmitleid. Im Sinne eines Durchgangsstadiums ist es notwendig, diese Gefühle anzunehmen, denn nur, was ich in seinem Sosein wirklich anerkenne, kann ich später auch loslassen. Doch wenn ich in dieser Position verbleibe, dann kann sich das Bedauern meines Schicksals zu einer dauerhaften Einstellung verhärten. Die Welt bleibt mir etwas schuldig, und es kann nicht gutgemacht werden, was ich erleiden musste. Wenn nun jemand dies zu seiner Lebensperspektive macht, verhindert er die weitere Autonomieentwicklung und wird mit sich selbst immer unzufriedener. Da der Hunger nach Mitleid nicht wirklich befriedigt werden kann, müssen oft Suchtmittel nachhelfen, um eine kurzzeitige Entspannung

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