Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
für den Reifegrad eines Menschen. Ein Weiser, der dreißig Jahre die Versenkung geübt hat, wird viel tiefgründigere Einsichten erlangen als jemand, der zeitlebens nur materielle Wünsche befriedigt hat.
Unbewusste psychische Mechanismen beeinflussen in einem hohen Maße introspektive Einsichten, um belastende Situationen zu verarbeiten. Je tiefgreifender die Schädigung, desto stärker wird die Eigenwahrnehmung verzerrt, weil Schutzmechanismen der Psyche die bedrückenden Inhalte entziehen oder sie verändern, um die wichtigsten innerseelischen Funktionskreise aufrechtzuerhalten.
Folgende Abwehrformen, die ich gleich noch kurz erläutere, sind hervorzuheben: Verleugnung, Abspaltung, Projektion, Verkehrung ins Gegenteil, Bagatellisierung, Harmonisierung, Idealisierung und Retroflexion oder Deflexion. Wenn wir mit schmerzhaften Erlebnissen oder unangenehmen Wahrheiten konfrontiert werden, verzerrt sich die Wahrnehmung und verengt sich der Handlungsspielraum, um die psychische Balance wiederherzustellen. Damit löst sich jedoch die Situation nicht wirklich, sondern es bleibt meistens ein diffuses und leicht unangenehmes Gefühl in der Brust- oder Bauchgegend zurück. Ich verspüre jemandem gegenüber Ärger und traue mich aber nicht, die Störung anzusprechen. Wende ich nun den Ärger gegen mich selbst (Retroflexion), werde ich vielleicht auf Dauer Magengeschwüre bekommen. Im Falle der Projektion glaube ich nun, dass sich der andere über mich ärgert, und vermeide den Kontakt zu ihm. So weiche ich meinen Gefühlen aus und verhindere Klärung. Oder wenn eine Familie ein außereheliches Kind tabuisiert, wird häufig vom Thema abgelenkt (Deflexion), wenn die Gefahr besteht, dass jemand danach fragen könnte. Wenn nun jemand Demütigungen oder körperliche Gewalt in der Kindheit erleiden musste, kann es sogar passieren, dass er sich überhaupt nicht mehr an diese schrecklichen Erlebnisse erinnert, sie somit ganz dem Zugriff des Bewusstseins entzieht und innere Barrieren dagegen errichtet (Abspaltung). Das Gleichgewicht der Psyche hat immer Vorrang vor der Erkenntniswirklichkeit. Abwehrstrategien wirken halbbewusst oder gänzlich unbewusst. Sie müssen kontinuierlich aufgelöst werden, um wachstumsrelevante Inhalte freizulegen und zunehmende Bewusstheit über sich selbst zu erlangen.
Eine ganz besonders verfälschende Wirkung auf unsere Wahrnehmung haben sogenannte Übertragungsreaktionen, weil in ihnen die Dynamik unabgeschlossener früherer Konflikte wirksam wird. Als Übertragung wird eine besondere Art von Beziehung zu einer anderen Person verstanden. Das Hauptmerkmal ist dabei das Erleben von Einstellungen, Gefühlen, Wünschen und Impulsen, die zu dieser Person gar nicht passen, sondern sich auf eine andere Person beziehen. Es wird auf eine Person der Gegenwart so reagiert, als sei sie eine Person der Vergangenheit. Übertragung ist somit eine Wiederholung, eine Neuauflage, ein Irrtum in der Zeit. Der Lehrer wird zum strengen Vater, dem ich nicht widersprechen darf, die Freundin zur überfürsorglichen Mutter, von der ich mich lösen muss. Der Mann, obwohl er eigentlich einfühlsam ist, wird missbräuchlich erlebt, nur weil er seine sexuellen Bedürfnisse zum Ausdruck bringt. Wie diese Beispiele schon andeuten, stehen dahinter zumeist problematische Lebenserfahrungen. Übertragungsreaktionen aktivieren alte Erlebnismuster, inszenieren bekannte Konfliktkonstellationen und verengen den Blickwinkel, so dass korrigierende Erfahrungen ausgeblendet werden. Sie bilden die alte Situation vergleichbar oder in abgewandelter Form ab, können sich aber auch auf Wünsche, Sehnsüchte oder grundlegende Bedürfnisse, wie Wärme, Sicherheit oder Geborgenheit, beziehen, die früher nicht ausreichend befriedigt wurden. So wie eine Frau einen dreißig Jahre älteren Mann geheiratet hat, weil sie einen verständnisvollen Vater vermisste. Oder ein junger Mann, der in die Fänge einer nationalistischen Jugendbewegung gerät, weil er dort die Wärme und Wertschätzung zu erfahren glaubt, die er zu Hause nicht bekommen hat. Übertragungsreaktionen erkennt man an ihrer Inadäquatheit; sie sind, bezogen auf den Kontext, unangemessen und emotional intensiv. Sie sind zäh und auch nur schwer abzustellen. Sie treten reflexartig auf, und man fühlt sich insgesamt zwiespältig, als ob man wüsste, dass etwas nicht stimmen kann. Werden sie bearbeitet, führen sie zu wertvollen Einsichten in die psychische Dynamik und leiten
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