Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Ergebnis von Krankheit betrachtet, obwohl immer klarer wird, dass sich im Tod eine außergewöhnliche Seinsqualität zeigt:
»Es klingt merkwürdig, aber wir wenden uns gegen das Leben, wir wenden uns gegen die Vollkommenheit des Lebens, wenn wir den Tod aus unserem Bewusstsein ausklammern.« (Willigis Jäger, 1991, S.173)
Die Angst vor dem Tod sitzt tief »in unseren Knochen«. Es wird viel unternommen, um das Älterwerden außer Kraft zu setzen. Gegenwärtig haben Verjüngungsmittel, Anti-Aging-Programme, Wellnesskuren, Schönheitsoperationen und Potenzpillen Hochkonjunktur.
Spüren wir der Angst vor dem Tode nach, dann fühlen wir uns ausgeliefert und machtlos. Die Angst vor dem Tod setzt sich aus mehreren Ängsten zusammen: der Angst vor dem Aufhörenmüssen und dem Nichtsein, der Angst vor dem Ausgeliefertsein und der Angst, bisher nicht ausgiebig genug gelebt zu haben. Wir haben dem Tod gar nichts entgegenzusetzen, unabhängig von Ansehen und Reichtum, und das ist fast unerträglich. Die Hilflosigkeit wird noch durch die Ungewissheit, wann und wie wir sterben werden, verstärkt. Dieses Erleben bedroht unsere scheinbare Autonomie. Der Selbsterhaltungsinstinkt verliert in Todesnähe an Geltung und Einfluss, er muss letzten Endes kapitulieren. Ohne große Gegenwehr bricht der Stolz, sich unabhängig und frei zu fühlen, zusammen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Tod häufig als dunkle fremde Macht angesehen wird, die uns ungefragt und unausweichlich in die Knie zwingt, in das Innerste vordringt und vom Leben losreißt. Der Mensch wird dabei gezwungen, seine Liebsten zu verlassen und ihm Liebgewordenes unwiderruflich aufzugeben.
Die Angst vor dem Tod ist aber auch eine Angst vor dem Älterwerden, vor Krankheit, Isolation und Hilflosigkeit. Wer den Tod nicht verleugnet, kann bis ins hohe Alter lebendig bleiben und wachsen. Die Belastungen, die der allmähliche Abbau körperlicher und geistiger Fähigkeiten mit sich bringt, können besser akzeptiert werden, wenn das Alter als Wachstumsphase anerkannt und nicht pathologisiert wird. Das Einzige, was wir zu tun haben, ist loslassen und vertrauen. Dann kann ich sterben, um der zu werden, der ich eigentlich bin. Wenn wir einfach zulassen, was geschieht, begegnen wir dem Größeren in uns, also dem, was uns trägt. Alles, was wir haben und was wir zu sein glauben, wird dadurch nachrangig. Die Sicherheit, die früher von materiellen Gütern und sozialem Prestige ausging, wird fragwürdig und bricht zusammen. Sie muss aufgegeben werden, denn sonst entstehen Verhärtungen, die in eine Verweigerung, in ein Nein dem Sterben gegenüber führen. Dabei durchschreiten wir Gefühle übermächtiger Angst, grenzenloser Ohnmacht, radikaler Einsamkeit und verzweifelter Ausweglosigkeit. Dazu gehören Erfahrungen der Schwere, eines starken Drucks und des Verlustes der Fühlungnahme mit der physischen Welt. Das Rad der Zeit kann nicht mehr zurückgedreht werden, und wir sind den weiteren Abläufen und fremden Mächten hoffnungslos ausgeliefert. Die Entscheidungen sind uns aus der Hand genommen, und der Prozess steuert auf eine Unumkehrbarkeit und Endgültigkeit zu. Die vertraute, logische Welt tritt zurück, und die Gefühle verblassen. Wenn nun auch die körperliche Kraft allmählich erlischt, die Sinne mehr und mehr verdämmern und die intellektuellen Deutungshorizonte wegbrechen, hat man nur noch eine Chance, nämlich »ja« zu sagen. Ja zu sagen zu dem, was geschieht, und zu dem, wer ich dann bin! Es ist wie ein großes Ausatmen. Erst wenn die personalen Strukturen weich werden, kann hinter der Verlust- und Vernichtungsangst das Tragende durchscheinen und Vertrauen in die Tiefe entstehen.
Dies fällt etwas leichter, wenn der Sterbende im Stadium davor wichtige Aspekte seines Lebens bereinigen oder integrieren konnte. Das ist jedoch nicht so einfach, denn im Angesicht des Todes wird man von dem, wovor man im Leben davongelaufen ist, eingeholt. Es kann sein, dass verdrängte Wut oder Trauer aufbricht und nicht bearbeitete Konflikte szenisch vor dem inneren Auge ablaufen. Gerne denke ich in diesem Zusammenhang an meinen Vater, den ich die letzten Wochenenden seines Lebens begleiten durfte. In berührenden Gesprächen blickte er nochmals auf sein Leben zurück, erlebte die eine oder andere Szene hautnah wieder und teilte mir sein Bedauern mit, dass er mich zeitlebens nicht richtig wahrgenommen habe. Unerschrocken lüftete er auch Familientabus und stellte sich seiner
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