Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
eins, und nichts mehr ist unterschieden. Subjekt und Objekt der Erfahrung sind verschmolzen, so dass es niemanden mehr gibt, der nach innen schaut, und nichts mehr, was geschaut wird. Alles fließt, alles ist eins, und nichts mehr existiert abgegrenzt. Hier hört auch die Beschreibung der Introspektion auf, denn es gibt sie nicht mehr.
Stirb und werde
D as Werden trägt von allem Anfang an das Vergehen in sich, wie in der Natur, wenn auf den Herbst der Winter und dann der Frühling folgt. Blüten müssen verwelken, um neue Samen hervorzubringen. Alles ist im Fluss, nichts bleibt, wie es ist, alles verändert sich unaufhaltsam. Alles hat einen Anfang und ein Ende: jeder Gedanke, jede Empfindung und jede Handlung. Es ist aussichtslos, sich gegen dieses Lebensgesetz aufzulehnen – im Gegenteil: Wir können nur gewinnen, wenn wir es anerkennen. Nichts von allem, was wir sind und was wir besitzen, bleibt ewig. Diese Einsicht lässt uns besser mit den Schwankungen des Lebens umgehen. Denn auch schmerzhafte Zustände sind nicht von Dauer, sie sind Augenblicke im Leben, die sicher kommen, aber auch sicher wieder gehen. Wenn wir das begreifen, werden wir nicht mehr so leicht aus der Bahn geworfen. Das ist ein Geheimnis, das uns die Weisen offenbaren wollen. Sie betrachten den Tod als mystisches Ereignis, weil sich im Sterben die Tür zur Transzendenz öffnet, wichtige Reifungsschritte erfolgen und wir zu unserer Wesensnatur zurückkehren. Ganz entscheidend ist dabei ein radikaler Transformationsprozess, in dem das Loslassen und Sich-anvertrauen-Lernen im Mittelpunkt steht. Die Relativierung der eigenen Bedeutung, das Zurücktreten von der Ich-Betonung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Wesensnatur, zur Ganzheit. Wenn wir diese Einsicht schon im Leben realisieren, wird seelisches Wachstum unterstützt. Gleichzeitig ist das auch eine optimale Vorbereitung für einen bewussten Sterbeprozess. Deshalb ist es verwunderlich, dass die Sterblichkeit so wenig in der akademischen Psychologie Berücksichtigung findet und die Verantwortung dafür eher den Religionen zugeschoben wird. Erst in jüngster Zeit haben sich die Humanwissenschaften endlich dieses Themas angenommen.
Todesnähe
Die Frage, was an der Grenze zwischen Leben und Tod passiert und was sich jenseits dieser Grenze auftut, hat die Menschen von jeher in den Bann gezogen. Trotzdem ist der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod von einer eigenartigen Zwiespältigkeit geprägt. Einerseits gibt es kaum einen Film oder eine Zeitungsausgabe, in der nicht gestorben wird, und andererseits fällt es außerordentlich schwer, mit Angehörigen über den nahenden Tod einer Person zu sprechen, geschweige denn, sich in jungen Jahren mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Die Unausweichlichkeit des Todes scheint für die menschliche Natur eine tiefe narzisstische Kränkung zu sein, so dass der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode in den religiösen Heilserwartungen vieler Völker eine große Rolle spielt: im Schamanismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus, im Islam und in der israelisch-jüdischen Glaubenswelt, in den Jenseitsideen der christlichen Religion, aber auch in so manchen Totenkulten und Gebräuchen, die sich selbst in Europa zum Teil bis in unsere Tage erhalten haben. Völkerkundliche Forscher sehen gerade in den Bestattungsriten der Urzeit eine umfassende Beschäftigung mit dem Thema Tod. Dies wird als Zeichen einsetzender Selbstreflexion gedeutet, die den Übergang vom Primaten zum Menschen markiert.
Wenn wir uns nun an den Zustand in Todesnähe herantasten wollen, so geben uns Berichte von Fastgestorbenen, Todeserlebnisse in veränderten Bewusstseinszuständen und die Aufzeichnungen in den Totenbüchern wertvolle Hinweise. Anthropologen gehen sogar davon aus, dass in den tibetischen und ägyptischen Totenbüchern, die Hilfestellungen für den Übergang geben, die Erfahrungen im Nahtodzustand oder von induzierten Bewusstseinsreisen mit einfließen. Das Sterben sieht man dabei generell als einen Durchbruch zur Transzendenz, als einen Akt der Reinigung von früheren Verfehlungen und als eine Vorbereitung für eine folgende Wiedergeburt. Es finden sich dort aber auch Übungen für eine seelisch-geistige Erneuerung, die wir im Alltag praktizieren können.
Der Tod begrenzt auf eigentümliche Weise das Leben und ist zugleich innig mit unserer Existenz verwoben. Trotzdem wird die Tatsache des Todes häufig verdrängt, tabuisiert oder als das unerfreuliche
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