Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
wenn es uns widersinnig oder unlogisch erscheint oder unseren vertrauten Gedankengängen widerspricht, dann enthüllt es sein Wesen. Das voraussetzungslose Staunen führt den Blick in die Tiefe. Die sich öffnenden Dimensionen erfüllen uns mit Ehrfurcht und Liebe. Die Überwindung von Spaltung führt zu einer intimen Beziehung, einer Zuneigung zu dem, was sich uns auftut.
Die Phänomenologie will durch Innenbetrachtung und Loslassen aller Voraussetzungen, ohne Zwang zur Allgemeingültigkeit oder empirischen Überprüfbarkeit, die inneren Zusammenhänge erspüren und die Grundstrukturen der Phänomene freilegen. Besondere Früchte zeigt diese Art des Erkennens, wenn wir es auf den Menschen selbst richten und tiefer erfassen wollen, wie sich das Ganze des menschlichen Erlebens aufbaut. Phänomenologie ist somit eine Beschreibung dessen, was im inneren Antlitz gegenwärtig wird. Die phänomenologische Einstellung ist eine innere Haltung, in der wir uns achtsam und innig dem annähern, was sich in unserem Inneren zeigt. Wir selbst müssen bereit sein, unsere gewohnten Denkstrukturen zugunsten eines Staunens aufzugeben und durch Vertrauen in die Intuition dem Mehrdeutigen, dem Flüchtigen, dem Symbolischen und Impliziten Raum zu geben. Was uns dann begegnet, sind sinnhafte Ganzheiten, evidente Seinswahrheiten und intuitive Botschaften, durch welche die Einheit von Mensch und Welt offenbar wird.
Ein einfaches Beispiel zeigt den Wert dieses Zugangs: Wenn ein Aufnahmearzt in der Psychiatrie sich auf den Kontakt zu einem Patienten einlässt, bevor er noch die verfügbare Krankenakte einsieht, wird er vielleicht einen direkteren Zugang zum Patienten finden. Lassen Sie mich den vortrefflichen Nutzen der phänomenologischen Einstellung nun durch eine Übung aufzeigen. Jederzeit kann sie im Alltag angewendet werden. Für diese Tiefenschau ist es hilfreich, dass Sie experimentell davon ausgehen, dass es in uns einen Raum gibt, aus dem wichtige, normalerweise nicht zugängliche Informationen gewonnen werden können. Die Übung umfasst acht Schritte, und es ist günstig, sich die einzelnen Schritte von einem Menschen, dem Sie vertrauen, vorlesen zu lassen. Sie können aber auch vorher alle Schritte durchlesen, vielleicht auf einem großen Blatt notieren und sich merken, so dass Sie sich mühelos darauf einlassen können:
1. Halten Sie bitte für einen Augenblick inne und nehmen Sie wahr, welche Frage oder welches Thema Sie zur Zeit am meisten in Ihrem Leben beschäftigt. Formulieren Sie daraus eine ganz konkrete Fragestellung. Diese schreiben Sie sich auf.
2. Schließen Sie bitte die Augen und registrieren Sie alles, was schon zu dieser Frage an Ideen, Ratschlägen und vorläufigen Antworten aufgetaucht ist. Lassen Sie sich dafür Zeit, bis Sie den Eindruck der Vollständigkeit haben. Sie können sich auch vor Ihrem geistigen Auge einen Kreis zeichnen und alle diese Aspekte symbolisch dort hineinlegen.
3. Ganz allmählich stellen Sie sich vor, wie Sie mit dem Ausatmen alle diese Aspekte loslassen oder außerhalb des Kreises befördern, bis am Ende allein die Frage übrig bleibt. Vielleicht hat sie sich in der Zwischenzeit auch leicht verändert. Wir machen nun eine kurze Reise nach innen und nehmen nur noch die Frage mit.
4. Rücken Sie jetzt ein wenig auf Ihrem Stuhl nach vorne, so dass Ihr Rücken sich von alleine aufrichtet und die Wirbelsäule sich über dem Becken zentriert. Die Hände legen Sie geöffnet in den Schoß. Sie spüren sich ganz präsent im »Hier und Jetzt« und nehmen den Raum neben Ihnen, unter Ihnen und über Ihnen wahr. Sie spüren, wie Sie und der Raum eins werden. Der persönliche Raum verschmilzt mit dem großen Raum. Dann atmen Sie tief ein und aus.
5. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr von außen nach innen. Ruhig fließt der Atem weiter ein und aus. Falls Sie körperliche Spannungen oder Blockaden erleben, atmen Sie einfach hin und lassen mit dem Ausatmen los. Vielleicht dauert es noch ein wenig, bis die Geräusche abnehmen und Sie sie am Ende vielleicht ganz hinter sich lassen können. Vielleicht erleben Sie auch jetzt schon, wie Sie sanft nach innen gleiten. Sie spüren, wie Sie Schritt für Schritt, ganz von selber, immer tiefer kommen. Lassen Sie sich einfach weiter, vielleicht mit Hilfe ihres Atems, nach innen führen. Immer tiefer, immer weiter, bis Sie die Empfindung haben: Hier ist mein Innerstes, mein im Augenblick spürbarer tiefster Grund. Dann stellen Sie sich bitte
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