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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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hingehen, das werde ich tun, jenes entdecken, diese Frau lieben und dann die und die und die. Ich werde leben, wie die Menschen in Romanen leben und gelebt haben. In welchen genau, wusste ich nicht, nur dass es darin Leidenschaft und Gefahr, Verzückung und Verzweiflung (aber dann noch mehr Verzückung) geben würde. Indes … von wem stammt dieser Satz von der »Nichtigkeit des Lebens, die die Kunst überhöht«? Als ich Ende zwanzig war, kam ein Moment, in dem ich mir eingestand, dass meine Abenteuerlust längst im Sande verlaufen war. Ich würde nie tun, was die Jugend sich erträumt hatte. Stattdessen mähte ich den Rasen, ich machte Urlaub, ich hatte mein Leben.
    Aber die Zeit … die Zeit, die uns erst lähmt und dann beschämt. Wir hielten uns für reif, dabei gingen wir nur auf Nummer sicher. Wir hielten uns für verantwortungsbewusst, dabei waren wir nur feige. Was wir Realismus nannten, erwies sich als eine Manier, den Dingen aus dem Weg zu gehen, statt ihnen ins Auge zu sehen. Zeit … man gebe uns genügend Zeit, und unsere fundiertesten Entscheidungen scheinen wackelig, unsere Gewissheiten bloße Schrullen.
    Ich machte den Umschlag, den Veronica mir gegebenhatte, anderthalb Tage nicht auf. Ich wartete damit, weil ich wusste, sie würde davon ausgehen, dass ich nicht damit wartete, dass ich ihn aufriss, noch ehe sie außer Sicht war. Doch ich wusste auch, dass der Umschlag wohl kaum das enthalten würde, was ich wollte: etwa den Schlüssel zu einem Schließfach, in dem ich Adrians Tagebuch finden würde. Außerdem konnte ihr tugendhafter Spruch, man dürfe anderer Leute Tagebücher nicht lesen, bei mir nicht verfangen. Ich traute ihr durchaus eine Zerstörung fremden Eigentums zu, um mich für längst vergangene Fehler und Vergehen zu bestrafen, aber nicht, um ein eilends aufgestelltes Prinzip für korrektes Verhalten zu verteidigen.
    Es verwirrte mich, dass sie ein Treffen vorgeschlagen hatte. Warum hatte sie sich nicht der Royal Mail bedient und damit eine Begegnung vermieden, die ihr ersichtlich zuwider war? Warum diese direkte Konfrontation? Weil sie neugierig war und mich nach all den Jahren noch einmal sehen wollte, selbst wenn es sie dabei schauderte? Das bezweifelte ich eher. Ich ließ die rund zehn Minuten, die wir miteinander verbracht hatten, noch einmal Revue passieren – den Ort, den Ortswechsel, das Bestreben, beide Orte wieder zu verlassen, was gesagt wurde und was ungesagt blieb. Schließlich stellte ich eine Theorie auf. Wenn sie das Treffen nicht für das brauchte, was sie getan hatte – nämlich mir den Umschlag zu geben –, dann brauchte sie es für das, was sie gesagt hatte. Nämlich, dass sie Adrians Tagebuch verbrannt hatte. Und warum musste sie das am Ufer der grauen Themse in Worte fassen? Damit es sich abstreiten ließ. Sie wollte nicht, dass es den Beweis einer ausgedruckten E-Mail gäbe. Wenn sie fälschlich behaupten konnte, ich selbst hätte um ein Treffen gebeten, dann würde sie auch ohne Weiteres bestreiten, dass sie je eine Zerstörung fremden Eigentums gestanden hatte.
    Nachdem ich diese vorläufige Erklärung gefunden hatte, wartete ich bis zum Abend, nahm mein Abendessen ein, schenkte mir noch ein Glas Wein ein und setzte mich mit dem Umschlag hin. Mein Name stand nicht darauf: vielleicht ein weiterer Beweis dafür, dass sich alles abstreiten ließe? Natürlich habe ich ihm keinen Umschlag gegeben. Ich hab ihn nicht mal getroffen. Der fällt mir nur auf den Wecker mit seinen ewigen Mails, ein Fantast, ein glatzköpfiger Cyberstalker.
    Der graue, ins Schwärzliche übergehende Rand auf der ersten Seite sagte mir, dass ich wieder eine Fotokopie in den Händen hielt. Was war nur in sie gefahren? Gab sie sich nie mit echten Dokumenten ab? Dann erkannte ich das Datum oben auf der Seite und die Handschrift: meine eigene, wie sie vor langer Zeit gewesen war. »Lieber Adrian«, begann der Brief. Ich las ihn ganz durch, sprang auf, nahm das Weinglas, goss den Wein unter viel Gespritze in die Flasche zurück und schenkte mir einen sehr großen Whisky ein.
    Wie oft erzählen wir unsere eigene Lebensgeschichte? Wie oft rücken wir sie zurecht, schmücken sie aus, nehmen verstohlene Schnitte vor? Und je länger das Leben andauert, desto weniger Menschen gibt es, die unsere Darstellung infrage stellen, uns daran erinnern können, dass unser Leben nicht unser Leben ist, sondern nur die Geschichte, die wir über unser Leben erzählt haben. Anderen, aber – vor allem – uns selbst

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