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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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eine falsche Metapher?
    5.9. Doch angenommen, es ist keine falsche Metapher – wenn ein Glied bricht, wo liegt dann die Verantwortung für diesen Bruch? Bei den unmittelbar benachbarten Gliedern oder bei der gesamten Kette? Was aber verstehen wir unter der »gesamten Kette«? Wie weit erstreckt sich die Verantwortung?
    6.0. Oder wir versuchen, die Verantwortung einzugrenzen und genauer zuzuweisen. Und keine Gleichungen und mathematische Größen zu verwenden, sondern den Sachverhalt in der herkömmlichen erzählerischen Terminologie auszudrücken. Zum Beispiel, wenn Tony
    Und hier brach die Fotokopie – diese Version einer Version – ab. »Zum Beispiel, wenn Tony«: Ende der Zeile, Ende der Seite. Hätte ich Adrians Handschrift nicht sofort erkannt, so hätte ich womöglich gedacht, dieses Spannungsmoment sei Teil eines raffinierten, von Veronica ausgeheckten Schwindels.
    Aber ich wollte nicht an Veronica denken – zumindest nicht, solange es sich irgendwie vermeiden ließ. Stattdessen versuchte ich, mich auf Adrian zu konzentrieren und auf das, was er da tat. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber als ich diese fotokopierte Seite ansah, hatte ich nicht das Gefühl, ein historisches Dokument zu betrachten – noch dazu eins, das eine beträchtliche Exegese erforderte. Nein, ich hatte das Gefühl, Adrian stehe wieder hier im Zimmer, an meiner Seite, atmend und denkend.

    Und wie bewundernswert er geblieben war. Ich habe hin und wieder versucht, mir die Verzweiflung vorzustellen, die zum Selbstmord führt, habe mich bemüht, mir die Schwaden der Dunkelheit auszumalen, aus denen nur der Tod als winziger Lichtblick hervortritt: mit anderen Worten, das genaue Gegenteil des Normalzustands des Lebens. Doch bei diesem Dokument – von dem ich aufgrund dieser einen Seite annahm, es enthalte Adrians rationale Argumentation für seinen eigenen Selbstmord – benutzte der Autor das Licht der Vernunft, um mehr Licht in etwas zu bringen. Ergibt das einen Sinn?
    Ich bin sicher, die Psychologen haben irgendwann mal ein Diagramm erarbeitet, das Intelligenz im Verhältnis zum Lebensalter darstellt. Nicht Weisheit, Pragmatismus, Organisationstalent, taktische Klugheit – all das kann im Laufe der Zeit zu einem verschwommenen Begriffsverständnis führen. Nein, ein Diagramm der reinen Intelligenz. Und das zeigt vermutlich, dass der Höhepunkt bei den meisten Menschen zwischen sechzehn und fünfundzwanzig Jahren liegt. Adrians Fragment hat mir wieder vor Augen geführt, wie er in dem Alter war. Wenn wir diskutierten und stritten, dann schien er dazu ausersehen, Gedanken in eine Ordnung zu bringen, als sei der Einsatz des Gehirns für ihn so natürlich wie für einen Sportler der Einsatz der Muskeln. Und wie Sportler auf einen Sieg häufig mit einer seltsamen Mischung aus Stolz, Ungläubigkeit und Bescheidenheit reagieren – das hab ich geschafft, aber wie hab ich das geschafft? Ganz allein? Mithilfe anderer? Oder hat Gott das für mich getan? –, so nahm auch Adrian andere mit auf seine Gedankenreise, als könne er selbst nicht recht glauben, mit welcher Leichtigkeit er vorankam. Er hatte einen Zustandder Gnade erlangt – aber dieser Zustand schloss andere nicht aus. Er gab einem das Gefühl, sein Mitdenker zu sein, auch wenn man gar nichts sagte. Und es war sehr seltsam für mich, das nun wieder zu empfinden, diese Verbundenheit mit einem Menschen, der jetzt tot war, aber immer noch intelligenter als ich, obwohl ich so viele Jahrzehnte länger gelebt hatte.
    Und nicht nur die reine, sondern auch die angewandte Intelligenz. Unwillkürlich verglich ich mein Leben mit dem Adrians. Die Fähigkeit, sich selbst zu sehen und prüfend zu betrachten; die Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln; der geistige und körperliche Mut seines Selbstmords. »Er hat sich das Leben genommen« lautet die gängige Formel; aber Adrian hatte auch die Verantwortung für sein Leben, die Herrschaft über sein Leben übernommen, er hatte es selbst in die Hand genommen – und dann fallen lassen. Wer von uns – von uns, die wir geblieben sind – kann das von sich behaupten? Wir wursteln so vor uns hin, wir lassen das Leben geschehen, wir legen uns nach und nach einen Vorrat an Erinnerungen zu. Hier stellt sich die Frage der Akkumulation, aber nicht in dem von Adrian gemeinten Sinn, sondern die Frage der einfachen Addition und Vermehrung des Lebens. Und wie schon der Dichter sagt, ist vermehren nicht dasselbe wie

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