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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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einiger Entfernung zu einer leeren Bank mit Blick auf die Themse. Die Strömung war für mich nicht zu erkennen, weil die Wasserfläche von einem böigen Seitenwind aufgewühlt wurde. Der Himmel über uns war grau. Es waren nur wenige Touristen da; hinter uns ratterte jemand auf Rollerblades vorbei.
    »Warum hält man dich für einen Alkoholiker?«
    »Tut man doch gar nicht.«
    »Warum hast du dann davon angefangen?«
    »Hab ich ja gar nicht. Du hast gesagt, ich hätte keine Haare mehr. Und Tatsache ist nun mal, dass irgendwas im Alkohol verhindert, dass Säufern die Haare ausfallen.«
    »Ist das wahr?«
    »Na, kannst du dir einen glatzköpfigen Alkoholiker vorstellen?«
    »Ich hab Besseres mit meiner Zeit anzufangen.«
    Ich warf einen kurzen Blick auf sie und dachte: Du hast dich nicht verändert, aber ich. Dennoch machte mich dieses Unterhaltungsmanöver seltsamerweise beinahe nostalgisch. Beinahe. Gleichzeitig dachte ich: Du siehst ein bisschen abgerissen aus. Sie trug einen praktischen Tweedrock und einen ziemlich schäbigen blauen Regenmantel; ihre Haare wirkten ungekämmt, selbst unter Berücksichtigung des Windes, der vom Fluss her wehte. Sie waren genauso lang wie vor vierzig Jahren, aber stark mit Grau durchsetzt. Besser gesagt, grau mit dem ursprünglichen Braun durchsetzt. Margaret hat immer gesagt, Frauen würden oft den Fehler machen, weiterhin dieselbe Frisur zu tragen, die sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität zugelegt hätten. Sie behielten einen Stil bei, der längst nicht mehr zu ihnen passte, nur weil sie Angst vor einem radikalen Schnitt hätten. Zweifellos war das bei Veronica auch so. Oder es war ihr einfach egal.
    »Nun?«, sagte sie.
    »Nun?«, wiederholte ich.
    »Du wolltest mich treffen.«
    »Wollte ich das?«
    »Du meinst, du wolltest nicht?«
    »Wenn du es sagst, wollte ich es offenbar.«
    »Heißt das nun Ja oder Nein?«, fragte sie, sprang auf und stand, jawohl, ungeduldig da.
    Darauf ging ich absichtlich nicht ein. Weder sagte ich, sie solle sich wieder hinsetzen, noch stand ich selbst auf. Wenn sie wollte, konnte sie gehen – und das würde sie auch, deshalb war jeder Versuch sinnlos, sie zurückzuhalten. Sie schaute über das Wasser hinaus. Sie hatte drei Muttermale am Hals – konnte ich mich an die erinnern oder nicht? Jetzt wuchs aus jedem ein langes Haar, und die feinen Fäden glänzten im Licht.
    Also schön, kein Geplauder, kein Blick in die Historie, keine Nostalgie. Zur Sache.

    »Gibst du mir Adrians Tagebuch?«
    »Das kann ich nicht«, erwiderte sie, ohne mich anzusehen.
    »Warum nicht?«
    »Ich hab es verbrannt.«
    Erst Diebstahl, dann Zerstörung fremden Eigentums durch Verbrennen, dachte ich mit aufwallendem Ärger. Aber ich ermahnte mich, sie weiterhin wie eine Versicherungsgesellschaft zu behandeln. Darum fragte ich nur so neutral wie möglich:
    »Aus welchem Grund?«
    Ihre Wange zuckte, aber ich konnte nicht erkennen, ob das ein Lächeln war oder ein Zeichen von Nervosität.
    »Man soll anderer Leute Tagebücher nicht lesen.«
    »Deine Mutter hat es offenbar gelesen. Und du offenbar auch, um zu entscheiden, welche Seite du mir schickst.« Keine Antwort. Versuchen wir es anders. »Wie ging dieser Satz übrigens weiter? Du weißt schon, welcher: ›Zum Beispiel, wenn Tony …‹?«
    Schulterzucken, Stirnrunzeln. »Man soll anderer Leute Tagebücher nicht lesen«, wiederholte sie. »Aber wenn du willst, kannst du das hier lesen.«
    Sie zog einen Umschlag aus der Tasche ihres Regenmantels, gab mir den Brief, drehte sich um und ging.
    Zu Hause schaute ich mir meine eigenen Mails an, und natürlich hatte ich nie um ein Treffen gebeten. Also jedenfalls nicht direkt.
    Ich erinnerte mich an meine erste Reaktion, als ich das Wort »Blutgeld« auf meinem Monitor sah. Ich hatte mir gesagt: Aber es ist doch niemand zu Tode gekommen. Ich hatte nur an Veronica und mich gedacht. Adrian hatte ich nicht in Betracht gezogen.
    Was mir noch klar wurde: Margarets Theorie vonden eindeutig konturierten gegenüber den mysteriösen Frauen wies einen Fehler oder eine statistische Abweichung auf; genauer gesagt der zweite Teil, wo es hieß, Männer fühlten sich entweder zu der einen oder zu der anderen Sorte hingezogen. Ich hatte mich zu Veronica wie auch zu Margaret hingezogen gefühlt.
    Ich erinnere mich an eine Zeit gegen Ende der Pubertät, als ich mich innerlich an Bildern von Kühnheit und Abenteuerlust berauschte. So wird es sein, wenn ich mal erwachsen bin. Dort werde ich

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