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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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die Seite meines Wesens, der dieser Brief entsprungen war, gar nicht wieder. Aber vielleicht war das nur ein weiterer Selbstbetrug.
    Erst dachte ich vor allem über mich nach und darüber, wie – was – ich gewesen war: rüpelig, eifersüchtig und bösartig. Und über meinen Versuch, ihre Beziehung zu untergraben. Zumindest das war mir misslungen, denn Veronicas Mutter hatte mir versichert, die letzten Monate von Adrians Leben seien glücklich gewesen. Nicht dass ich damit aus dem Schneider gewesen wäre. Mein jüngeres Ich war zurückgekommen, und mein älteres Ich war entsetzt darüber, was jenes Ich gewesen war oder immer noch war oder wozu es manchmal imstande war. Und ich hatte mich erst vor Kurzem darüber ausgelassen, dass es immer weniger Zeugen unseres Lebens und damitauch immer weniger an notwendiger Bestätigung gibt. Jetzt hatte ich eine höchst unangenehme Bestätigung dafür, was ich war oder einst gewesen war. Hätte Veronica doch nur dieses Dokument angezündet.
    Dann dachte ich über sie nach. Nicht darüber, was in ihr vorgegangen sein mochte, als sie diesen Brief zum ersten Mal las – darauf würde ich noch zurückkommen –, sondern warum sie ihn mir ausgehändigt hatte. Natürlich wollte sie mir zeigen, was für ein Scheißkerl ich war. Aber das war noch nicht alles, überlegte ich: Angesichts unserer aktuellen Patt-Situation war es auch ein taktisches Manöver, eine Warnung. Sollte ich irgendein juristisches Theater um das Tagebuch veranstalten, würde sie diesen Brief zu ihrer Verteidigung einsetzen. Ich hätte mir selbst ein Leumundszeugnis ausgestellt.
    Dann dachte ich über Adrian nach. Meinen alten Freund, der sich umgebracht hatte. Und dies war das Letzte, was er je von mir gehört hatte. Eine Verunglimpfung seines Charakters und ein Versuch, die erste und letzte Liebesbeziehung seines Lebens zu zerstören. Und als ich schrieb, die Zeit würde es weisen, hatte ich mich verrechnet oder vielmehr die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Die Zeit sprach nicht gegen Adrian und Veronica, sie sprach gegen mich.
    Und schließlich fiel mir die Postkarte ein, die ich Adrian als vorläufige Antwort auf seinen Brief geschickt hatte. In der ich so kühl und gelassen getan hatte, als wäre alles völlig okay, altes Haus. Auf der Karte war ein Bild der Clifton-Hängebrücke. Von der jedes Jahr einige Menschen in den Tod springen.
    Am nächsten Tag, als ich wieder nüchtern war, dachte ich noch einmal über uns drei nach und über die vielen Paradoxien der Zeit. Zum Beispiel: Wenn wir jung und empfindsam sind, sind wir auch am verletzendsten; wenn aber das Blut allmählich langsamer fließt, wenn unsere Empfindungen abgestumpft sind, wenn wir besser gewappnet sind und gelernt haben, Verletzungen zu ertragen, dann lassen wir mehr Vorsicht walten. Heute wollte ich Veronica zwar auf die Nerven gehen, aber ich würde sie nie in ihrem Lebensnerv treffen wollen.
    Im Rückblick war es nicht grausam von ihnen gewesen, mich wissen zu lassen, dass sie nun ein Paar waren. Es war nur der Zeitpunkt gewesen sowie die Tatsache, dass mir Veronica hinter der ganzen Sache zu stecken schien. Warum war ich daraufhin so ausgerastet? Verletzter Stolz, Examensstress, Einsamkeit? Alles nur Entschuldigungen. Und nein, das war nicht Scham, was ich jetzt empfand, auch keine Schuldgefühle, sondern etwas, was in meinem Leben seltener war und stärker als beides: Reue. Ein Gefühl, das vielschichtiger ist, zäher und urtümlicher. Das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass man nichts dagegen tun kann: Es ist zu viel Zeit vergangen, zu viel Schaden angerichtet worden, um etwas wiedergutzumachen. Dennoch schickte ich Veronica, vierzig Jahre danach, eine Mail, in der ich mich für meinen Brief entschuldigte.
    Dann dachte ich weiter über Adrian nach. Er hatte von Anfang an klarer gesehen als wir anderen. Während wir uns in der Trübsal der Pubertät suhlten und uns einbildeten, unsere gewohnheitsmäßige Unzufriedenheit sei eine originelle Reaktion auf die conditio humana, schaute Adrian bereits weiter voraus und hatte mehr im Blick. Er empfand das Leben auch klarer – sogar dann, vielleicht gerade dann, als er zu dem Schluss kam, es sei nicht lebenswert. Im Vergleich zu ihm hatteich mich immer nur durchgewurstelt, unfähig, viel aus den wenigen Lektionen zu lernen, die das Leben mir geboten hatte. Nach meinen Maßstäben fand ich mich mit den Realitäten des Lebens ab und unterwarf mich seinen Notwendigkeiten: wenn dies, dann das,

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