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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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steigern.
    Hatte mein Leben sich gesteigert oder nur vermehrt? Das war die Frage, die Adrians Fragment für mich aufwarf. In meinem Leben hatte es Addition – und Subtraktion – gegeben, aber wie viel Multiplikation? Und bei diesen Fragen überfiel mich ein Unbehagen, eine Unruhe.
    »Zum Beispiel, wenn Tony …« Dieser Halbsatz hatte eine eng umrissene, textbezogene Bedeutung, die allein der Zeit vor vierzig Jahren galt; und vielleicht würdeich irgendwann entdecken, dass er einen Vorwurf, eine Kritik meines alten klarsichtigen und sich selbst erkennenden Freundes enthielt oder darauf hinauslief. Doch zunächst hatte das für mich einen umfassenderen Bezug – auf die Gesamtheit meines Lebens. »Zum Beispiel, wenn Tony …« Und auf dieser Ebene war das praktisch eine in sich geschlossene Aussage und bedurfte keiner Erläuterung durch einen nachfolgenden Hauptsatz. Ja, in der Tat, wenn Tony klarer gesehen, entschlossener gehandelt, sich an wahrere moralische Werte gehalten, sich nicht so leicht mit einer passiven Friedfertigkeit begnügt hätte, die er erst Glück und später Zufriedenheit nannte. Wenn Tony nicht so ängstlich gewesen wäre, seine Selbstbestätigung nicht in der Bestätigung durch andere gesucht hätte … und so immer weiter, eine Kette von Hypothesen, die zu der letzten Hypothese führten: zum Beispiel, wenn Tony nicht Tony gewesen wäre.
    Doch Tony war und ist Tony, ein Mann, der sich an seiner eigenen Verbissenheit delektierte. Briefe an Versicherungsgesellschaften, E-Mails an Veronica. Wenn du mir an den Karren pinkeln willst, dann pinkele ich dir auch an den Karren. Ich schickte ihr weiterhin praktisch jeden zweiten Tag eine Mail, jetzt in wechselndem Tonfall, von scherzhaften Ermahnungen wie »Lass Anstand walten, Mädel!« über Fragen zu Adrians abgebrochenem Satz bis zu halbherzigen Erkundigungen nach ihrem eigenen Leben. Sie sollte das Gefühl haben, dass ich auf der Lauer lag, wann immer sie ihre Mailbox anklickte; und sie sollte merken, dass ich wusste, was sie tat, selbst wenn sie meine Nachrichten umgehend löschte, und dass mich das nicht überraschen, geschweige denn beleidigen würde. Und dass ich da war und wartete. »Tai- jai-jai-jaim is on my side, yes it is …« Ich hatte nicht das Gefühl, sie zu schikanieren; ich wollte haben, was mir gehörte. Und eines Morgens konnte ich dann einen Erfolg verzeichnen.
    »Morgen bin ich in London, wir treffen uns um 3 in der Mitte der Wackelbrücke.«
    Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich dachte, wir würden auf Abstand bleiben, und sie würde mit Anwälten und Schweigen operieren. Vielleicht war sie in sich gegangen. Oder ich war ihr auf die Nerven gefallen. Das hatte ich schließlich bezweckt.
    Die Wackelbrücke ist die neue Fußgängerbrücke über die Themse zwischen der St. Paul’s Cathedral und der Tate Gallery of Modern Art. Die Brücke hatte bei der Eröffnung etwas geschwankt – ob nun vom Wind oder der Masse der herumtrampelnden Leute oder von beidem –, und die britischen Pressefuzzis hatten sich prompt über die Architekten und Ingenieure lustig gemacht, die angeblich keine Ahnung von ihrem Geschäft hatten. Ich fand die Brücke schön. Ich fand es auch schön, wie sie wackelte. Meiner Meinung nach sollten wir ab und zu an den schwankenden Boden unter unseren Füßen erinnert werden. Die Brücke war dann repariert worden und wackelte nicht mehr, aber der Name blieb – einstweilen jedenfalls. Ich überlegte, was Veronica zur Wahl dieses Treffpunkts bewogen haben mochte. Und ob sie mich warten lassen und von welcher Seite sie kommen würde.
    Aber sie war bereits da. Ich erkannte sie schon von Weitem, ihre Körpergröße und Haltung waren mir sofort vertraut. Komisch, wie sich das Bild der Körperhaltung eines Menschen für immer einprägt. Und in ihrem Fall – wie soll ich es ausdrücken? Kann man ungeduldigstehen? Ich meine nicht, dass sie von einem Fuß auf den anderen trat; aber eine erkennbare Anspannung verriet, dass Veronica dort nicht sein wollte.
    Ich schaute auf die Uhr. Ich war pünktlich auf die Minute. Wir sahen uns an.
    »Du hast keine Haare mehr«, sagte sie.
    »So was kommt vor. Das zeigt zumindest, dass ich kein Alkoholiker bin.«
    »Hab ich auch nicht gesagt. Setzen wir uns da drüben auf eine Bank.«
    Sie ging los, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie lief schnell, und ich hätte ein paar Schritte rennen müssen, um sie einzuholen. Dieses Vergnügen wollte ich ihr nicht gönnen, darum folgte ich ihr in

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