Vom Ende einer Geschichte
und so gingen die Jahre dahin. Nach Adrians Maßstäben hatte ich das Leben aufgegeben, hatte aufgegeben, es genau zu betrachten, nahm alles, wie es kam. Und so spürte ich zum ersten Mal eine umfassendere Reue – ein Gefühl, das irgendwo zwischen Selbstmitleid und Selbsthass angesiedelt war – über mein ganzes Leben. Mit allem, was dazugehörte. Ich hatte die Freunde meiner Jugendzeit verloren. Ich hatte die Liebe meiner Frau verloren. Ich hatte alle Ambitionen aufgegeben, die ich einst gehegt hatte. Ich hatte gewollt, dass das Leben mir nicht allzu sehr zusetzt, und das hatte ich geschafft – und wie erbärmlich das war.
Mittelmaß – seit dem Ende der Schulzeit war ich nichts als Mittelmaß. Mittelmaß an der Universität und im Beruf; Mittelmaß in Freundschaft, Treue, Liebe; Mittelmaß zweifellos auch beim Sex. Vor ein paar Jahren ergab eine Umfrage unter britischen Autofahrern, dass sich fünfundneunzig Prozent der Befragten für »überdurchschnittlich gute« Fahrer hielten. Nun müssen aber dem Gesetz des Mittelmaßes zufolge die meisten von uns zwangsläufig Durchschnitt sein. Nicht dass mir das ein Trost gewesen wäre. Das Wort klang mir in den Ohren. Mittelmaß im Leben; Mittelmaß bei der Wahrheit; moralisches Mittelmaß. Veronica hatte bei unserem Wiedersehen als Erstes darauf hingewiesen, dass ich keine Haare mehr hatte. Das war noch das Wenigste.
Die Mail, die sie mir auf meine Entschuldigung hin schickte, hatte folgenden Wortlaut: »Du kapierst wohlgar nichts, was? Hast du ja nie.« Ich konnte mich kaum beschweren. Auch wenn ich mich bei dem kläglichen Wunsch ertappte, sie hätte in einem der zwei Sätze meinen Namen genannt.
Ich fragte mich, wie Veronica im Besitz meines Briefes geblieben war. Ob Adrian ihr all seine Habe testamentarisch vermacht hatte? Ich wusste nicht mal, ob er ein Testament gemacht hatte. Vielleicht hatte er den Brief in seinem Tagebuch aufbewahrt, und sie hatte ihn dort gefunden. Nein, das war nicht klar gedacht. Wenn er dort gewesen wäre, hätte Mrs Ford ihn gesehen – und dann hätte sie mir bestimmt nicht fünfhundert Pfund vermacht.
Ich fragte mich, warum Veronica überhaupt auf meine Mail geantwortet hatte, da sie sich doch den Anschein gab, mich voll und ganz zu verachten. Na, vielleicht tat sie das gar nicht.
Ich fragte mich, ob Veronica Bruder Jack dafür bestraft hatte, dass er mir ihre Mail-Adresse gegeben hatte.
Ich fragte mich, ob ihr »Ich hab kein gutes Gefühl dabei« vor all den Jahren einfach nur Höflichkeit gewesen war. Vielleicht hatte sie nicht mit mir schlafen wollen, weil die sexuellen Kontakte, die wir während der Zeit ihrer Entscheidung hatten, einfach nicht erfreulich genug waren. Ich fragte mich, ob ich ungeschickt, zudringlich, selbstsüchtig gewesen war. Nicht ob, sondern wie.
Margaret saß ruhig da, aß Quiche und Salat, später Pannacotta mit Fruchtcoulis und hörte sich dabei an, wie ich ihr meine Verbindung zu Jack, die Seite aus Adrians Tagebuch, die Begegnung auf der Brücke, den Inhalt meines Briefs und meine Gefühle der Reue schilderte. Sie stellte ihre Kaffeetasse mit einem leisen Klacken auf die Untertasse zurück.
»Du bist doch nicht mehr in die Zimtschnecke verliebt.«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Tony, das war keine Frage. Es war eine Feststellung.«
Ich sah sie liebevoll an. Sie kannte mich besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Und wollte trotzdem noch mit mir essen gehen. Und ließ mich endlos über mich selbst reden. Ich lächelte ihr zu, auf eine Art, die sie zweifellos auch allzu gut kannte.
»Eines schönen Tages werde ich dich überraschen«, sagte ich.
»Das schaffst du immer noch. Du hast es heute geschafft.«
»Ja, aber ich will dich auf eine Art überraschen, dass du besser von mir denkst und nicht schlechter.«
»Ich denke nicht schlechter von dir. Ich denke nicht mal schlechter von der Zimtschnecke, obwohl ich zugebe, dass meine Meinung von ihr immer im unterirdischen Bereich lag.«
Triumphieren ist nicht Margarets Sache; sie wusste auch, dass sie mich nicht darauf hinzuweisen brauchte, dass ich ihren Rat in den Wind geschlagen hatte. Ich glaube, sie leiht anderen ganz gern ein mitfühlendes Ohr und lässt sich auch ganz gern daran erinnern, warum sie froh ist, nicht mehr mit mir verheiratet zu sein. Das meine ich gar nicht gehässig. Ich glaube nur, dass es so ist.
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Das tust du doch immer«, antwortete sie.
»Hast du mich meinetwegen
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