Vom Ende einer Geschichte
Verantwortung trägst, bis du durchschlagende Beweise für das Gegenteil hast. Adrian war viel intelligenter als ich – er bediente sich der Logik, wo ich mich des gesunden Menschenverstands bediene –, aber ich glaube, wir sind mehr oder weniger zu demselben Schluss gekommen.
Nicht dass ich alles verstehe, was er geschrieben hat. Ich habe auf diese Gleichungen in seinem Tagebuch gestarrt, ohne dass mir eine große Erleuchtung gekommen wäre. Aber ich war ja auch nie gut in Mathe.
Ich beneide Adrian nicht um seinen Tod, aber ich beneide ihn um die Klarheit seines Lebens. Nicht nur, weil er klarer sah, dachte, fühlte und handelte als wir anderen; sondern auch wegen des Zeitpunkts seines Todes. Damit meine ich nicht dieses Erste-Weltkriegs-Gequatsche: »Inder Blüte der Jugend dahingerafft« – ein Spruch, den unser Direktor noch bei Robsons Selbstmord von sich gab – und »Sie werden nicht alt wie wir, die wir geblieben sind«. Uns andere hat es meist nicht gestört, alt zu werden. Für mich ist das noch immer die bessere Alternative. Nein, ich meine Folgendes. Als Zwanzigjähriger hat man bei aller Verwirrung und Unsicherheit über die eigenen Ziele und Absichten ein starkes Empfinden dafür, was das Leben an sich ist und was man selbst im Leben ist und womöglich werden könnte. Später … später gibt es noch mehr Unsicherheit, mehr Überschneidungen, mehr Kehrtwendungen, mehr falsche Erinnerungen. In jungen Jahren kann man sich an sein kurzes Leben in seiner Gesamtheit erinnern. Später wird die Erinnerung etwas aus Fetzen und Flicken Zusammengestoppeltes. Es ist ein bisschen so wie bei der Black Box, die in einem Flugzeug aufzeichnet, was bei einem Absturz passiert. Wenn alles gut geht, löscht sich das Band von allein. Kommt es tatsächlich zu einem Absturz, kann man genau sehen, warum; kommt es nicht dazu, ist das Logbuch der Reise viel weniger klar.
Oder anders ausgedrückt. Jemand hat mal gesagt, seine Lieblingsphasen in der Geschichte seien die, in denen alles zusammenbrach, weil dann etwas Neues geboren wurde. Ergibt das irgendeinen Sinn, wenn wir es auf unser persönliches Leben übertragen? Sterben, wenn etwas Neues geboren wird – auch wenn dieses Neue unser ureigenes Ich ist? Denn wie jeder politische und historische Wandel früher oder später enttäuschen muss, so muss auch das Erwachsenendasein enttäuschen. Und auch das Leben. Manchmal glaube ich, es ist der Sinn des Lebens, uns mit seinem letztendlichen Verlust zu versöhnen, indem es uns zermürbt, uns beweist, auch wenn daseine Weile dauern kann, dass das Leben gar nicht so toll ist.
Stell dir vor, jemand schreibt spät in der Nacht, ein bisschen angetrunken, einen Brief an eine alte Freundin. Er schreibt die Adresse auf den Umschlag, klebt eine Briefmarke drauf, nimmt seinen Mantel, geht zum Briefkasten, wirft den Brief ein, geht nach Hause und legt sich schlafen. Die letzten Schritte würde er höchstwahrscheinlich nicht unternehmen, richtig? Er würde den Brief liegen lassen, um ihn am Morgen einzuwerfen. Und es sich dann womöglich noch einmal überlegen. Daher spricht viel für E-Mails mit ihrer Spontaneität, ihrer Unmittelbarkeit, ihrer emotionalen Aufrichtigkeit, sogar mit ihren Entgleisungen. Mein Denken – wenn das Wort nicht zu hoch gegriffen ist – verlief in folgenden Bahnen: Warum soll ich Margaret glauben? Sie war ja nicht dabei und kann nur Vorurteile haben. Darum schickte ich Veronica eine E-Mail. Als Betreff schrieb ich »Frage«, und meine Frage an sie war: »Glaubst du, ich war damals in dich verliebt?« Ich unterzeichnete mit dem Anfangsbuchstaben meines Vornamens und drückte auf Senden, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Das Letzte, was ich erwartet hätte, war eine Antwort am nächsten Morgen. Diesmal hatte Veronica meinen Betreff nicht gelöscht. Ihre Antwort war: »Wenn du diese Frage stellen musst, dann heißt die Antwort Nein. V.«
Vielleicht sagt es etwas über meinen Geisteszustand aus, dass ich diese Antwort normal, ja ermutigend fand.
Vielleicht sagt es etwas anderes aus, dass ich daraufhin Margaret anrief und ihr von diesem Mailwechsel erzählte. Erst war Schweigen, dann sagte meine Exfrau ruhig: »Tony, du bist jetzt auf dich selbst gestellt.«
Man kann es natürlich auch anders darstellen; das kann man immer. Da ist zum Beispiel die Frage der Verachtung und unseres Umgangs damit. Bruder Jack zwinkert mir herablassend zu, und vierzig Jahre später wende ich meinen ganzen Charme auf –
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