Vom Ende einer Geschichte
verlassen?«
»Nein«, sagte sie. »Ich habe dich unsertwegen verlassen.«
Susie und ich verstehen uns sehr gut, wie ich oft und gern wiederhole. Und das ist eine Aussage, die ich vor Gericht mit Freuden beschwören würde. Susie ist dreiunddreißig, vielleicht auch vierunddreißig. Ja, vierunddreißig. Wir hatten nie Streit, seit ich in einer eichengetäfelten Amtsstube in der ersten Reihe saß und dort meinen Dienst als Zeuge verrichtete. Ich erinnere mich, wie ich damals dachte, damit seien meine Verpflichtungen beendet – genauer gesagt, damit zöge ich mich aus meinen Verpflichtungen zurück. Aufgabe erledigt, einziges Kind sicher in den einstweiligen Hafen der Ehe geleitet. Nun musst du nur noch dafür sorgen, dass du kein Alzheimer kriegst, und daran denken, ihr dein ganzes Geld zu hinterlassen. Und du könntest versuchen, es besser zu machen als deine eigenen Eltern und zu sterben, wenn sie das Geld wirklich gebrauchen kann. Das wäre mal ein Anfang.
Ich wage zu behaupten, wenn Margaret und ich zusammengeblieben wären, hätte ich mich mehr als liebevoller Großvater betätigen dürfen. Es ist kein Wunder, dass Margaret nützlicher war. Susie wollte die Kinder nicht bei mir lassen, weil sie mir nicht zutraute, mit ihnen zurechtzukommen, auch wenn ich noch so viele Windeln gewechselt hatte und dergleichen mehr. »Du kannst Lucas ja zum Fußball mitnehmen, wenn er älter ist«, sagte sie einmal zu mir. Ach, da sitzt der triefäugige Opa auf der Tribüne und weiht den Kleinen in die Geheimnisse des Fußballspiels ein: Wie man Leute in andersfarbigen Hemden hasst, wie man eine Verletzung vortäuscht, wie man aufs Spielfeld rotzt – guck mal, mein Junge, man drückt fest auf ein Nasenloch, damit es zubleibt, und lässt den grünen Schleim aus dem anderen schießen. Wie man eingebildet und überbezahlt ist und seine besten Jahrehinter sich hat, bevor man überhaupt begreift, worum es im Leben geht. Oh ja, ich freue mich darauf, mit Lucas zum Fußball zu gehen.
Aber Susie merkt nicht, dass mir das Spiel – oder das, was daraus geworden ist – keinen Spaß macht. Sie hat eine praktische Einstellung zu Gefühlen, meine Susie. Das hat sie von ihrer Mutter. Darum interessiert sie sich nicht dafür, wie meine Gefühle wirklich sind. Sie nimmt lieber an, dass ich bestimmte Gefühle habe, und arbeitet dann mit dieser Annahme. Auf einer gewissen Ebene gibt sie mir die Schuld an der Scheidung. Etwa so: Da ihre Mutter die Scheidung allein betrieben hat, war offenbar allein ihr Vater daran schuld.
Entwickelt sich ein Charakter im Laufe der Zeit? In Romanen natürlich schon: sonst würde die Geschichte ja nicht viel hergeben. Aber im richtigen Leben? Manchmal frage ich mich das. Unsere Einstellungen und Ansichten ändern sich, wir entwickeln neue Gewohnheiten und Marotten; aber das ist etwas anderes, eher eine Art Dekoration. Vielleicht ist es mit dem Charakter so ähnlich wie mit der Intelligenz, nur dass der Charakter seinen Höhepunkt etwas später erreicht: sagen wir, zwischen zwanzig und dreißig. Und danach müssen wir uns einfach mit dem begnügen, was wir haben. Wir sind auf uns selbst gestellt. Wenn das stimmt, würde es einige Lebensgeschichten erklären. Und auch – falls das Wort nicht zu hochgestochen ist – unsere Tragödie.
»Die Frage der Akkumulation«, hatte Adrian geschrieben. Man setzt Geld auf ein Pferd, es gewinnt, der Gewinn wird auf das nächste Pferd im nächsten Rennen übertragen und so immer weiter. Die Gewinne akkumulieren sich. Aber was ist mit den Verlusten? Nicht auf der Rennbahn – da verlierst du nur deinen ursprünglichen Einsatz. Aber im Leben? Vielleicht gelten da andere Regeln. Du setzt auf eine Beziehung, sie scheitert; du fängst eine neue Beziehung an, und die scheitert auch: und vielleicht verlierst du dabei nicht zwei einfache Minusbeträge, sondern ein Vielfaches deines Einsatzes. So fühlt es sich jedenfalls an. Das Leben besteht nicht nur aus Addition und Subtraktion. Es gibt auch die Akkumulation, die Multiplikation des Verlusts, des Scheiterns.
Adrians Fragment handelt auch von der Frage der Verantwortung: ob es eine Verantwortungskette gibt oder ob wir den Begriff eingrenzen. Ich bin ganz fürs Eingrenzen. Nein, tut mir leid, du kannst das nicht auf deine toten Eltern schieben oder darauf, dass du Geschwister hattest oder eben keine, oder auf deine Gene oder die Gesellschaft oder sonst was – nicht unter normalen Umständen. Geh davon aus, dass du ganz allein die
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