Vom Ende einer Geschichte
nein, wir wollen nicht übertreiben: ich setze eine gewisse falsche Höflichkeit ein –, um ihm Informationen zu entlocken. Und verrate ihn dann umgehend. Meine Verachtung für deine Verachtung. Selbst wenn er mir damals, wie ich nun zugebe, vielleicht nur ein belustigtes Desinteresse entgegenbrachte. Jetzt schleppt meine Schwester wieder einen an – nun ja, davor war es ein anderer, und bald kommt sicher der nächste. Was soll ich dieser Eintagsfliege allzu viel Beachtung schenken? Aber ich – ich – empfand das damals als Verachtung, hatte es als solche in Erinnerung und gab das Gefühl zurück.
Und vielleicht ging es mir bei Veronica um mehr: ihre Verachtung nicht zurückzugeben, sondern zu überwinden. Man sieht, welcher Reiz darin liegt. Denn das Wiederlesen meines Briefs, das Erleben seiner Schroffheit und Aggressivität, hatte mich bis ins Innerste getroffen. Wenn Veronica vordem keine Verachtung für mich empfunden hatte, musste sie zwangsläufig Verachtung empfunden haben, nachdem Adrian ihr gezeigt hatte, was ich da geschrieben hatte. Und sie musste diesen Groll zwangsläufig all die Jahre mit sich herumgetragen haben und ihn zur Rechtfertigung der Nichtherausgabe, ja der Zerstörung von Adrians Tagebuch benutzen.
Vorhin habe ich voller Überzeugung behauptet, das wesentliche Merkmal der Reue sei, dass man nichts mehr dagegen tun könne: dass die Zeit für Entschuldigung und Wiedergutmachung vorbei sei. Aber wenn ich mich nun irre? Wenn Reue irgendwie doch dazu gebracht werdenkann, rückwärts zu fließen, sich in einfache Schuld zu verwandeln, bei der dann Entschuldigung und Vergebung möglich ist? Wenn ich beweisen kann, dass ich nicht der schlechte Kerl war, für den sie mich hielt, und sie bereit ist, diesen Beweis zu akzeptieren?
Aber vielleicht kam mein Beweggrund auch aus einer ganz anderen Richtung und hatte nichts mit der Vergangenheit, sondern der Zukunft zu tun. Wie die meisten Leute bin ich abergläubisch, wenn es um Reisen geht. Wir wissen zwar, dass Fliegen statistisch gesehen sicherer ist als ein Gang zum Laden an der Ecke. Dennoch bezahle ich vor der Abreise meine Rechnungen, erledige meine Korrespondenz und rufe einen nahestehenden Menschen an.
»Susie, ich fahre morgen.«
»Ja, ich weiß, Dad. Du hast es mir erzählt.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Also, ich wollte mich nur verabschieden.«
»Entschuldige, Dad, die Kinder machen mal wieder Krach. Was hast du gesagt?«
»Ach, nichts. Grüß sie von mir.«
Natürlich tut man das für sich selbst. Man will eine letzte Erinnerung hinterlassen, und die soll angenehm sein. Man will, dass andere gut von einem denken – falls das Flugzeug sich doch als das eine erweist, das nicht so sicher ist wie der Gang zum Laden an der Ecke.
Und wenn wir uns vor einem fünftägigen Winterurlaub auf Mallorca so verhalten, warum sollte dann gegen Ende des Lebens, wenn die letzte Reise – das motorisierte Rollen durch den Krematoriumsvorhang – näher rückt, nicht ein umfassenderer Prozess wirken? Denkt nicht schlecht von mir, behaltet mich in guter Erinnerung. Sagtanderen, dass ihr mich gerngehabt, dass ihr mich geliebt habt, dass ich kein schlechter Kerl war. Auch wenn das womöglich alles gar nicht stimmt.
Ich schlug ein altes Fotoalbum auf und schaute mir das Bild an, das ich auf ihren Wunsch auf dem Trafalgar Square gemacht hatte. »Eins mit deinen Freunden.« Alex und Colin feiern diesen »historischen Moment« mit übertrieben gewichtiger Miene, Adrian guckt ganz normal ernst, während Veronica sich – was mir vorher nie aufgefallen war – leicht zu ihm hinwendet. Sie blickt nicht zu ihm auf, aber sie blickt auch nicht in die Kamera. Mit anderen Worten, sie schaut nicht zu mir hin. An jenem Tag war ich eifersüchtig gewesen. Ich hatte sie mit meinen Freunden bekannt machen wollen, Veronica sollte sie nett finden, und sie sollten Veronica auch nett finden, aber natürlich nicht mehr, als alle mich nett fanden. Was womöglich eine ebenso kindische wie unrealistische Erwartung war. Darum wurde ich bockig, als Veronica ständig etwas von Adrian wissen wollte; und als Adrian später, in der Hotelbar, über Bruder Jack und seine Kumpane herzog, ging es mir sofort besser.
Für einen kurzen Moment erwog ich, Alex und Colin ausfindig zu machen. Ich stellte mir vor, wie ich nach ihren Erinnerungen frage und um ihre Bestätigung bitte. Aber die beiden spielten eigentlich keine zentrale Rolle in der Geschichte; ihre Erinnerungen würden wohl kaum
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