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Vom Himmel das Helle

Vom Himmel das Helle

Titel: Vom Himmel das Helle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
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darauf reagieren? Wäre so etwas möglich, wenn ich ihn darum bäte? Rein theoretisch war all das vorweggenommene Realität. Zumindest in meinem Gehirn.
    Ich schaltete auf Durchzug, hörte nur noch das Rauschen der Stimme meines Vaters, aber nicht mehr einzelne Wörter, und schon gar keinen Sinn. Ich schwelgte in meiner eigenen Welt. Ich sah ununterbrochen Mark vor mir. Sah ihn Wein in mein Glas gießen, mir zuprosten. Sah, wie er mich von seinem Fleisch kosten ließ, mir die Gabel über den Tisch hinhielt, nachdem er vorsichtig die Hitze weggepustet hatte, besorgt um den Zustand meiner Zunge, auf der das Fleisch zergehen würde wie später einer seiner Küsse. Ich aß mich mit ihm durch die Vorspeise, hörte uns dabei amüsiert lachen und uns unterhalten. Wir nippten immer wieder an unseren Getränken. Champagner, Wasser, Wein. Wir stießen unsere Gabeln in verschiedenfarbige, gut gegarte und überbackene Gemüse und Kartoffeln. Nudeln schlangen sich um unsere zweite Garnitur Besteck. Die Gabel bohrte sich in Champignons, Steinpilze, Pfifferlinge. Ihm lief die Rotweinsauce ein Stück weit das Kinn hinunter. Ich strich ihm mit dem Finger über die gut rasierte Haut, spürte den Ansatz seines Bartes darunter, das Männliche, sog mit meiner Fingerkuppe die Sauce auf, führte den Finger an meinen Mund und leckte sanft die Mischung aus Sauce und Hautfett auf. Seine Nase sog an allen Gerüchen, schnupperte daran wie ein Hund an einem saftigen Knochen. Er sah mich über den Rand seines Glases hinweg tief an und lächelte innig. Ein Lächeln, das sicher in seinem Gesicht schwamm, um in meinem anzukommen. Ich war in die Unterwelt dieser Nacht abgetaucht und hatte ihn fest in meiner Hand mitgenommen. Den Schatz dieses Augenblicks.
    Das Leben hatte die längste Zeit die Zügel festgehalten und ließ sie jetzt endlich los. Wir galoppierten in die wohlverdiente und so lange erhoffte Freiheit. Galoppierten über sämtliche Gläser und Getränke, Vorspeise, Hauptgericht, Sorbets als Zwischengang und Neutralisation des Gaumens, hinweg auf unsere Münder als Ziel zu. Das Leben war plötzlich ein Taubenschlag. Wir waren in Sicherheit. Draußen lugten die Wolken am Himmel weiterhin dunkel wie Blei hervor. Doch wir hatten die Regenrinne im Blick und das Fenster davor und saßen im Trockenen.
    Ich dachte bei mir, dass das Leben die Summe aller Tage und Nächte ist. Eine einzige Addition, deren Rechnung endlich aufging. Unterm Strich war alles gut. Mit seinem Atem stob er zu mir hinüber. Ich begann seinen Rhythmus aufzunehmen und in ihn hineinzuatmen. Mit jedem Atemzug schossen Informationen zwischen uns hin und her. Die falsche Realität der vergangenen Jahre fiel mir wie Schuppen von den Augen. All die Visionen, die mich hatten erzittern lassen. Die falschen von Einsamkeit und die vermeintlich richtigen von einer Zukunft mit Männern, die Berthold und Marius hießen, erlösten sich in einem Mahl, einem mehrgängigen Menü. Sein Gesicht kam näher an meines und er sah aus, als wäre er aus Metall gehämmert. Alles überdauernd. Stabil. Wirklich.
    Ich schob jede quälende Vorahnung an Endlichkeit beiseite und nahm seinen Daumen in meinen. Dieses kurze Stück Fleisch reichte mir nicht. In Gedanken war ich dabei, seinen gesamten Körper einzunehmen: seine fünf Finger, die Handballen, die Knöchel, die in den Unterarmen mündeten, seine Ellbogen, seine Schultern, seinen schmalen Hals, an dem einige eilig hingeworfene Parfümtropfen hingen, seine undefinierbarfarbenen Haare, durch die ich mit all meinen Fingern fahren würde, wie über die freie Strecke Autobahn, die es nie gab, auch morgens um vier nicht. Ich musste den Rest seines Gesichts aussparen. Seine markanten Augen, die Nase, die Wangen, die Narbe vor allem, den Mund an erster Stelle, natürlich, ihn besonders. Es wäre gefährlich von mir, es nicht zu tun. Ich hätte keinen meiner Finger auf eine dieser Stellen setzen können, denn dann hätte ich mich endgültig aufgegeben.
    In unsere Stimmung stahl sich plötzlich etwas rebellisch Übermütiges. Abhauen, durchbrennen. Nur, wohin? Er begann ruckartig zu sprechen, als wären ihm seine Sinne abhanden gekommen. Ich hörte gar nicht richtig hin. Ich nahm ihn nur wahr. Das genügte mir. Er hatte eine derartige Ausstrahlung, dass es mich umwarf. Mein Weinglas folgte. Es flog über den Tisch wie ein Taifun. Der Ober eilte herbei, mit Tuch, Wasser und beschwichtigenden Worten.
    Mir kam es vor, als hielte er ein Versprechen sexuellen

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