Vom Himmel das Helle
Ausschuss zulässt. Die gesamte Pulverschmauchwolke schlägt sich innerhalb eines jeweiligen Abstands in charakteristischer Verteilung auf dem beschossenen Objekt nieder. Meist hängen die abgelagerte Schmauchmenge und ihr Verteilungsbild um das Einschussloch lediglich von der Schussdistanz ab. »Schmauchspuren sind oft für das menschliche Auge unsichtbar. Deshalb muss das latente Schmauchverteilungsbild mit chemischen Methoden sichtbar gemacht werden«, murmelte ich vor mich hin, als stünde Frank vor mir, um mich abzufragen.
»Alles Dinge, die eine Notfallpsychologin nicht unbedingt während des Studiums lernt und die du dir, Detail für Detail, aneignen musst. Mit meiner Hilfe selbstverständlich«, hatte Frank damals zuerst ironisch und dann regelrecht beschwörend gemeint. Denn auch wenn die Forensik, die Spurentechnik und der Erkennungsdienst mit diesen Dingen zu tun hätten, müsste ich zumindest das Nötigste verstehen, um meine Arbeit machen zu können.
»Der Schuss ist als relativer Nahschuss einzustufen und bewegt sich innerhalb des Nachweisbereichs für Schmauchspuren«, las ich auf einem von Franks Formularen. »Na wenigstens«, murmelte ich.
Doch dann fiel mir wieder ein, dass beim FBI in den USA die Schmauchspur-Analyse seit 2006 als veraltet galt, denn man hatte nachgewiesen, dass eine bedenklich hohe Anzahl von Personen, die nachweislich keine Waffe abgefeuert hatten, mit Schmauchspuren an Kleidung und Körperteilen kontaminiert waren. Etwa durch Kontakt mit Polizeibeamten bei der Abnahme von Fingerabdrücken. Im Zuge von Untersuchungen hatte man festgestellt, dass die Materialanalyse eines Projektils keinen Aufschluss mehr über seinen Herstellungszeitraum gibt. Seitdem hatte sich vieles verändert, auch wenn bei uns andere Gesetze als in den Staaten und beim FBI galten und Schmauchspuruntersuchungen immer noch hoch im Kurs standen und das tägliche Brot der Ermittlungen waren.
Man weitete das Gebiet zur Aufklärung jedes Verbrechens aus, vor allem bei Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang. Deshalb war mein Beruf gefragter denn je.
Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich plötzlich auf das Thema Forensik kam, besonders auf die Schmauchspuruntersuchungen. Doch dann wusste ich es plötzlich. Ich war am falschen Ort zur falschen Zeit mit dem falschen Thema beschäftigt. Ich erhob Daten, überprüfte Ergebnisse und Untersuchungen, kurz gesagt, ich befand mich mitten in der Vergangenheit. Doch was eigentlich Not tat, war, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen. Besser gesagt, sich auf die Gegenwart, die dabei war in die Zukunft zu schlittern, zu konzentrieren. Ein schmales Zeitfenster, das alles offenbarte.
Die Vergangenheit, die die Tat und deren direkte Auswirkung barg, war wie Löschpapier, das Tinte aufgesogen hatte. Ich saß vor dem schwarzen Papier, das die Tinte längst zu einem Bestandteil seiner selbst gemacht hatte, und musste herausfinden, woher und weshalb es zu dem Vorfall gekommen war. Ich durfte nicht länger auf den Fleck stieren, sondern musste den Füller und die aufgeschraubte Hülse finden.
Es war meine dringendste Aufgabe, mich in Bogdan und Almut hineinzuversetzen, in die Schlünde ihrer Seelen, um herauszufinden, warum sie getan hatten, was getan worden war, und, was wesentlich wichtiger war, was als Nächstes auf ihrer Liste stand. In Franks Formularen herumzusuchen, nutzte mir gar nichts.
Als mir das klar war, ging alles sehr schnell. Mein Gehirn scannte etwas, das ich vor Kurzem registriert, aber nicht als wichtig empfunden hatte. Einen Buchrücken in Almuts Bibliothek. Das Buch, an dem mein Blick kurz hängengeblieben war, wie die Masche eines Pullovers an der rauen Oberfläche eines Möbels, hatte einen schwarzen Einband und eine gelbe krakelige Schrift. Thema: Selbstmord. Das war es, was ich intuitiv aufgenommen und irgendwohin abgelegt hatte, ohne zu ahnen, wozu es nützlich war. Hinter diesem Einband und zwischen diesen Blättern, lag der nächste Schritt einer vielleicht noch nicht zu Ende gebrachten Tat verborgen.
Ich schob Franks Zettel und Papiere mit rigiden Handgriffen zurück an ihren Platz, drehte das Licht ab und verließ das Büro. Dann hetzte ich auf die Straße, stürzte in meinen Wagen, startete und fuhr mit viel zu hoher Geschwindigkeit davon.
Siebenunddreißig
Almuts Körper war steif vor Argwohn, als sie das Foto ihres verstorbenen Mannes an sich nahm. Es stand vor einer Reihe ledergebundener Bücher und zeigte ihn vor seinem Schreibtisch, die
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