Vom Himmel das Helle
Reichtums in sich verborgen. Einen Reichtum, der sich in immerwährender Liebe auflöste, denn Sexualität verkam irgendwann, spätestens im Alter, wenn die Körper nicht mehr mitmachten, aber Liebe hielt Wort. In einem Körper auf Zeit tanzten unsere Hände auf dem jeweils anderen jeden erdenklichen Tanz. Sanft, leise, anschwellend, wild, auf dem Weg zur Ekstase. In einem Leben, in dem er sich gar nicht richtig befand, in dem er nur auf Besuch war, auf Urlaub, auf Durchreise, war uns doch alles möglich. Sein Leben war zwar eine unklare Angelegenheit, eine trübe Brühe, richtungslos, fiel mir wieder ein, aber zählte nicht allein der Moment? Dieses Jetzt, diese Möglichkeit war real, sie war die unsere.
Der Ober ging ab. Ich hatte eine neue Serviette auf meinem Schoß liegen. Mein Sprungtuch für alle Fälle. Wenn ich sie auf den Tisch legte, den Stuhl hinter mich schöbe, aufstünde und davoneilte, wäre alles dahin. Das Restaurant, das Essen, die Menge der Menschen. Käme er mit? Mit zu mir, in die Geborgenheit meines Bettes, dessen weiche Kissen uns einen Himmel an Gefühl und Intimität bereiten würden?
Er hatte noch immer seinen Daumen in meiner Hand und die stabilen Gesten des Beständigen auf seiner Seite. Ich ahnte, dass er Dinge sagen würde, wie: »Ich fühle mich berechtigt, das Schwache in dir aufzustöbern und das Starke an Land zu ziehen. Iss noch etwas. Ich möchte, dass es dir gut geht und wir weiterreden.«
Ich spürte, wie seine Hand auf meinem Unterarm Platz nahm und schwer wurde. Warum spürte ich plötzlich das ganze Gewicht seiner Knochen auf mir wie einen Briefbeschwerer auf einem Hauch von Papier?
»Lea! Hallo? Bist du überhaupt noch da oder in Gedanken längst wer weiß wo? Hörst du mir noch zu?« Ich nahm unwirsch die Hand von meinem Arm und blickte in die fragenden Augen meines Vaters. Seine Wimpern zuckten nach oben und sein Blick flimmerte. »Entschuldige. Ich war für einen Moment geistesabwesend«, antwortete ich.
»Hab ich bemerkt. Stoßen wir an?« Er hielt mir sein Glas entgegen. Ich nahm meines, in dem sich jetzt Rotwein befand. Keine Ahnung, wann der Kellner bewerkstelligt hatte, mein Glas zu füllen. Ich hörte den leise klirrenden Klang, als sich die dünnwandigen Gläser trafen, und kostete einen Schluck. Der Wein war schwer und gut. Mein Vater begann weiterzuplaudern mit einem Lächeln auf den Lippen, das ich nicht kannte. Er dauerlächelte und strapazierte seine Mundwinkel in eine Position, die ihnen nicht unbedingt bekommen würde. Er fand keine Ruhe. Gestenreich brachte er einen Witz dar wie eine Aufführung auf großer Bühne.
Plötzlich löste sich eine Frau von ihrem Stuhl. Der Umriss eines Menschen, der bisher in meinem rechten Blickwinkel verharrt hatte. Groß, blond, undefinierbares Alter, teuer gekleidet. Sie kam direkt auf uns zu. Vielleicht eine seiner kunstversessenen Kontakte. Eine millionenschwere Mäzenin, der er einmal etwas gerettet hatte. Doch das war sie nicht.
»Guten Abend, Clemens!« Sie war an unseren Tisch getreten wie eine Inquisitorin. »Renate? So ein Zufall. Was machst du hier?« Mein Vater blickte zu ihr auf, mit treuem Blick.
»Essen, Clemens. Was sonst?«
Er sprang auf, als erinnere er sich erst jetzt wieder an den guten Ton. Das Ganze wirkte, als befände sich Dynamit unter seinem Stuhl und er sich bald aufgelöst in seine Einzelteile in der Luft. »Darf ich vorstellen. Lea, das ist Renate. Renate, Lea«, fügte er an.
Ich merkte, wie er rot wurde und gleichzeitig blass, und da wusste ich, was ich hier zu suchen hatte. Meine Aufgabe an diesem Abend und in diesem Restaurant war es, die Frau zu spielen, mit der mein Vater seiner Ex-Freundin Renate imponieren konnte. Die Frau, durch deren Anwesenheit er signalisierte: Schau her, ich krieg noch was ab, etwas Besseres, sogar Jüngeres und zwar blitzschnell.
Renate und ich hatten uns nie kennengelernt. Nur voneinander gehört und ein- oder zweimal kurz ›Hallo‹ ins Telefon gesagt. Zu mehr hatte es nicht gereicht. Für sie war ich in diesem Moment das jüngere Ding an seiner Seite. Die Nachfolgerin. Für ihn eine Chance auf Rache. Deshalb hatte er sich so auf meine Hand gestürzt. Eben noch. Voll falscher Zärtlichkeit. Er wollte Renate zeigen, was er noch draufhatte.
»Dann wünsche ich euch einen harmonischen Abend. Am Essen kann’s ja nicht liegen. Das ist exquisit!« Renate hob die Schultern, zwang sich zu voller Größe und stolzierte auf schwindelerregend hohen Killer-Schuhen
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