Die Entscheidung
1
In der Dunkelheit huschte ein Mann von Baum zu Baum und näherte sich behutsam dem großen Haus. Das Landgut aus dem 19. Jahrhundert, das knapp 70 Kilometer südlich von Hamburg lag, erstreckte sich über 45 Hektar hügeliger Wälder und Wiesen und war nach dem Vorbild des Grand Trianon im Park von Versailles angelegt. Es war Heinrich Hagenmüller, der das Anwesen im Jahr 1872 anlegen ließ, um damit in der Gunst König Wilhelms I. von Preußen zu steigen, der im Jahr zuvor zum deutschen Kaiser proklamiert worden war. Verschiedene Teile des Anwesens waren im Laufe der Jahre verkauft worden, weil es zu kostspielig wurde, so viel Land zu erhalten.
Der Mann, der lautlos durch den Wald schlich, hatte zuvor hunderte Fotografien von dem Gut und seinem Besitzer studiert. Einige der Aufnahmen stammten von Satelliten, die tausende von Kilometern über der Erde ihrer Bahn folgten, doch die meisten hatte das Überwachungsteam angefertigt, das in der vergangenen Woche hier postiert gewesen war.
Der Killer war erst diesen Nachmittag aus den Vereinigten Staaten angekommen und wollte nun mit eigenen Augen sehen, womit er es zu tun hatte. Fotografien waren ein guter Anfang, aber sie konnten nie ein Ersatz dafür sein, sich selbst ein Bild zu machen. Er hatte den Kragen seiner schwarzen Lederjacke hochgeschlagen, um sich gegen die empfindliche Kälte des Herbstabends zu schützen. Die Temperatur war seit Sonnenuntergang um mindestens zehn Grad gesunken.
Zum zweiten Mal, seit er das Forsthaus verlassen hatte, blieb er wie angewurzelt stehen und lauschte. Er glaubte, hinter sich etwas gehört zu haben. Der schmale Pfad, den er entlangging, war mit braunen Kiefernnadeln bedeckt. Die Nacht war bewölkt und das Blätterdach über ihm so dicht, dass nur ganz wenig Licht hindurchdrang. Er trat an den Rand des Weges und blickte sich langsam um. Ohne sein Nachtsichtgerät sah er höchstens drei Meter weit.
Mitch Rapp wollte eigentlich auf das Nachtsichtgerät verzichten, weil er sichergehen wollte, dass er sich auch so zurechtfand – doch nun sagte ihm irgendetwas, dass er nicht allein war. Rapp zog eine 9-mm-Glock-Automatik hervor und schraubte lautlos einen Schalldämpfer an den Lauf. Dann nahm er ein kleines zylinderförmiges Nachtsichtgerät heraus, schaltete es ein und hob es ans rechte Auge. Der Weg vor ihm wurde augenblicklich von einem gespenstisch anmutenden grünen Licht erleuchtet. Rapp suchte auch die Wegränder aufmerksam ab. Das Nachtsichtgerät durchdrang mit Leichtigkeit die Dunkelheit, die für seine Augen undurchdringlich war. Er achtete besonders auf den Boden rund um die Bäume, die direkt am Weg standen – auf der Suche nach einer Schuhspitze, die ihm verraten hätte, dass sich jemand hinter einem Baum verborgen hielt.
Rapp wartete fünf Minuten geduldig und fragte sich schließlich, ob das verdächtige Geräusch vielleicht von einem Hirsch oder irgendeinem anderen Tier verursacht worden war. Nach fünf weiteren Minuten kam er widerstrebend zu dem Schluss, dass er einen Vierbeiner und keinen Zweibeiner gehört haben musste. Rapp steckte das Nachtsichtgerät wieder ein, behielt aber die Pistole in der Hand. Er hätte wohl kaum das reife Alter von zweiunddreißig Jahren erreicht, wenn er nicht beizeiten gelernt hätte, keine unnötigen Risiken einzugehen. Als echter Profi wusste er genau, wann er etwas riskieren konnte und wann es besser war, sich zu verdrücken.
Rapp ging einen halben Kilometer auf dem Weg weiter; er sah bereits die Lichter des Hauses vor sich und beschloss, den Rest des Weges im schützenden Unterholz zurückzulegen. Lautlos drang er durch das Dickicht vor, bog hier und dort vorsichtig einen Strauch zur Seite und duckte sich unter den Zweigen hindurch. Als er sich dem Waldrand näherte, trat er mit einem lauten Knacken auf einen Zweig, und er huschte rasch zur Seite, um hinter einem Baum Schutz zu suchen. Höchstens hundert Meter von ihm entfernt brachen Jagdhunde in lautes Gebell aus. Rapp stieß einen lautlosen Fluch hervor und blieb regungslos stehen. Genau aus diesem Grund war es so wichtig, sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Seltsamerweise hatte ihm niemand gesagt, dass es hier Hunde gab. Das Gebell schwoll zu einem wütenden Geheul an, als plötzlich eine Tür aufging. Eine tiefe Stimme rief den Tieren zu, still zu sein. Der Mann wiederholte den Befehl noch zweimal, woraufhin die Hunde sich schließlich beruhigten.
Rapp spähte vorsichtig hinter dem Baumstamm hervor und
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