Vom Kriege
wird.
Siebzehntes Kapitel: Über den Charakter der heutigen Kriege
Die Rücksicht, welche man dem Charakter der heutigen Kriege schuldig ist, hat einen großen Einfluß auf alle Entwürfe, vorzüglich die strategischen.
Seit alle gewöhnlichen früheren Mittel durch Bonapartes Glück und Kühnheit über den Haufen geworfen und Staaten vom ersten Range fast mit einem Schlage vernichtet worden sind; seitdem die Spanier durch ihren anhaltenden Kampf gezeigt haben, was Nationalbewaffnungen und [196] Insurrektionsmittel im großen vermögen trotz ihrer Schwäche und Porosität im einzelnen, seitdem Rußland durch seinen Feldzug von 1812 gelehrt hat, erstens, daß ein Reich von großen Dimensionen nicht zu erobern ist (welches man füglich vorher hätte wissen können), zweitens, daß die Wahrscheinlichkeit des Erfolges nicht in allen Fällen in dem Maße abnimmt, als man Schlachten, Hauptstädte, Provinzen verliert (was früher allen Diplomaten ein unumstößlicher Grundsatz war, daher sie auch gleich mit einem interimistischen schlechten Frieden bei der Hand waren), sondern, daß man oft mitten in seinem Lande am stärksten ist, wenn die Offensivkraft des Gegners sich schon erschöpft hat, und mit welcher ungeheuren Gewalt dann die Defensive zur Offensive überspringt; seitdem ferner Preußen 1813 gezeigt hat, daß plötzliche Anstrengungen die gewöhnliche Stärke einer Armee auf dem Wege der Miliz versechsfachen können, und daß diese Miliz ebensogut außerhalb des Landes als im Lande zu gebrauchen ist, - nachdem alle diese Fälle gezeigt haben, welch ein ungeheurer Faktor in dem Produkt der Staats-, Kriegs- und Streitkräfte das Herz und die Gesinnung der Nation sei, - nachdem die Regierungen alle diese Hilfsmittel kennengelernt haben, ist nicht zu erwarten, daß sie dieselben in künftigen Kriegen unbenützt lassen werden, sei es, daß die Gefahr der eigenen Existenz ihnen drohe, oder ein heftiger Ehrgeiz sie treibe.
Daß Kriege, welche mit der ganzen Schwere der gegenseitigen Nationalkraft geführt werden, nach anderen Grundsätzen eingerichtet sein müssen als solche, wo alles nach dem Verhältnis der stehenden Heere zueinander berechnet wurde, ist leicht einzusehen. Die stehenden Heere glichen sonst den Flotten, die Landmacht der Seemacht in ihrem Verhältnis zum übrigen Staat, und daher hatte die Kriegskunst zu Lande etwas von der Seetaktik, was sie nun ganz verloren hat.
Achtzehntes Kapitel: Spannung und Ruhe
Das dynamische Gesetz des Krieges
Wir haben im sechzehnten Kapitel dieses Buches gesehen, wie viel größer in den meisten Feldzügen die Zeit des Stillstandes und der Ruhe, als die des Handelns war. Wenn wir nun auch, wie im zehnten Kapitel gesagt ist, in den heutigen Kriegen einen ganz andern Charakter wahrnehmen, so ist es doch gewiß, daß das eigentliche Handeln immer von mehr oder weniger [197] langen Pausen unterbrochen sein wird, und dies führt uns auf das Bedürfnis, das Wesen beider Zustände näher zu betrachten.
Wenn ein Stillstand im kriegerischen Akt eintritt, d. h. wenn keiner von beiden Teilen etwas Positives will, so ist Ruhe und folglich Gleichgewicht, aber freilich Gleichgewicht in der weitesten Bedeutung, wo nicht bloß die physischen und moralischen Streitkräfte, sondern alle Verhältnisse und Interessen in die Rechnung kommen. Sowie einer der beiden Teile sich einen neuen positiven Zweck vorsetzt und für die Erreichung desselben tätig wird, wäre es auch bloß mit Vorbereitungen, und sobald der Gegner diesem widerstrebt, entsteht eine Spannung der Kräfte; diese dauert so lange, bis die Entscheidung erfolgt ist, d. h. bis entweder der eine seinen Zweck aufgegeben oder der andere ihn eingeräumt hat.
Auf diese Entscheidung, deren Gründe immer in den Wirkungen der Gefechtskombinationen liegen, welche von beiden Seiten entstehen, folgt dann eine Bewegung in der einen oder anderen Richtung.
Hat sich diese Bewegung erschöpft, entweder in den Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden waren, wie an eigener Friktion, oder durch neu eingetretene Gegengewichte, so tritt entweder wieder Ruhe oder eine neue Spannung und Entscheidung und dann eine neue Bewegung, in den meisten Fällen in der entgegengesetzten Richtung ein.
Diese spekulative Unterscheidung von Gleichgewicht, Spannung und Bewegung ist wesentlicher für das praktische Handeln, als es auf den ersten Augenblick scheinen möchte.
Im Zustand der Ruhe und des Gleichgewichts kann mancherlei Tätigkeit herrschen, nämlich
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